Leyla war seit fast zwei Jahren in Deutschland. Sie konnte noch keinen zusammenhängenden Satz auf Deutsch sagen. Zuerst fing ich mit dem Alphabet an, danach gab ich ihr das erste einfache Deutschlernheft. Ohne große Begeisterung machte sie die Aufgaben darin. Ich wunderte mich nur, dass sie keinen der Sätze oder auch nur einen Teilsatz daraus wiedergeben konnte, waren es doch wirklich leichte Anfängerübungen. Nachdem sie die Antworten niedergeschrieben hatte, gab ich ihr das Folgeheft. Es kostete sie sichtlich viel Anstrengung, die Aufgaben zu machen. Wieder schrieb sie lustlos und mehr mechanisch. Wenn ich ihr einfache Fragen zu den Sätzen stellte, konnte sie nicht antworten, und neue Wörter konnte sie sich partout nicht einprägen. Manchmal trieb ich sie an und drängte sie, bitte mehr zu üben, manchmal reagierte ich verärgert. Im dritten Lernheft kam sie schließlich an ihre absolute Grenze. Sie konnte sich auf der Seite gar nicht mehr orientieren und konnte keine der Aufgaben auch nur ansatzweise beantworten.
Ich war ratlos. Was sollte ich nur machen? Beim Spracherwerb geht es um Aufbau. Und was mache ich, wenn es keinen Fortschritt gibt und so gut wie nichts, um darauf aufzubauen? Ich hatte alles ausprobiert, was mir eingefallen war. Ratlos und frustriert legte ich das dritte Heft beiseite und ersetzte es wieder durch das zweite. Sie machte es zum zweiten Mal. Die Aufgaben löste sie jetzt etwas schneller, da gab es schon Fortschritte, aber sie machte die Übungen dennoch, als würde sie sie zum ersten Mal sehen. Anscheinend erkannte sie keine einzige der Aufgaben wieder. Ich war perplex. Warum nur ließen sich bei Leyla so gar keine Lernfortschritte erzielen? Nichts von dem, was ich anzubieten hatte, half ihr merklich weiter.
Mir fiel am Ende nichts anderes mehr ein, als mich Leylas Tempo einfach anzupassen. Und daraufhin veränderte sich etwas in mir. Ich konnte meinen Ehrgeiz für sie und meine Vorstellung von ihrem Lernen loslassen und begleitete sie mit mehr Ruhe und Wohlwollen einfach nochmal durch dasselbe Heft.
Wie lange hatte es gedauert, bis ich meine Ansprüche einfach loslassen und mich auf genau das einlassen konnte, was ich bei Leyla erlebte. Würde ihr das am Ende nicht sogar am meisten helfen?