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Wütend

Ich beginne den Nachmittagsunterricht mit Schwung und Energie und versuche die Schüler*innen mitzuziehen. Ich schreite schnell voran und wechsle von einem Thema zum nächsten. Erkan unterbricht mich und fragt mich: “Warum sind Sie so wütend, Frau Wanjura?” Ich stutze. Bin ich wirklich wütend? Ich versuche doch nur, die mittagsträgen Schüler*innen mitzuziehen. Und während ich das überlege, werde ich ruhiger. Ich hatte tatsächlich nicht bemerkt, dass ich wütend bin. Ich bin Erkan dankbar, dass er mir das gespiegelt hat.

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Süß

Ich hatte vor langen Jahren in einem Sommer am Bodensee eine kleine Ferienwohnung gemietet. Bei meinen Spaziergängen entdeckte ich, dass es eine Fülle von Brombeeren gab. In der Küche war alles Notwendige vorhanden, um Brombeergelee zu machen. Ich verbrachte also einige Stunden dieses Sommerurlaubs damit, die gesammelten Brombeeren zu Gelee zu verarbeiten. Davon hatte ich immer noch ein Glas in meiner Marmeladensammlung. Immer wenn ich es in die Hand nahm, erinnerte ich mich an diese herrliche Sommerzeit. Es war für mich wie ein im Glas konservierter Sommerurlaub. Mal um Mal schob ich es raus, das Glas zu öffnen. Irgendwann war es soweit. Ich bestrich zum Frühstück eine Scheibe Brot mit dem tief-violetten Gelee. Ich biss in die Scheibe und freute mich auf den Geschmack von süßer Frucht. Aber was für ein Reinfall! Es war total überzuckert. Ich hatte zu der Zeit die Gelees viel süßer gemacht als ich sie heute mache. So lange hatte ich mich auf dieses Glas Gelee gefreut und jetzt schmeckte es nicht einmal mehr.

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Das Besteck

Zu Studienzeiten gab es in den verschiedenen WGs, in die ich zog natürlich immer schon Besteck. Ich weiß nicht mehr, wann ich mir eigenes Besteck angeschafft habe. Ich erinnere mich allerdings daran, dass ich bei meinem Umzug nach Neuseeland weder mein Geschirr noch Besteck mitgenommen habe. Als ich nach der Trennung von meinem Mann nach Christchurch in eine eigene Wohnung umzog, kaufte ich mir das Wichtigste gebraucht zusammen. Nach Deutschland brachte ich von alldem nur einige Messer und Gabeln mit zurück. Teller, Becher und alles andere verschenkte ich dort. Als ich nach anderthalb Jahren in möblierten Wohnungen am Bodensee meine Wohnung in Saarbrücken bezog, kaufte ich mir wieder das Nötigste zusammen. Das Besteck blieb ein Sammelsurium von nicht zueinander passenden Messern, Löffeln und Gabeln und es störte mich nie. Bis jetzt. Ich war vor einem halben Jahr umgezogen und zum erstem Mal in meinem Leben wünschte ich mir ein einheitliches Besteck. Das Geld für ein neues Set wollte ich nicht investieren und suchte in Kleinanzeigen. Als ich ein passendes gefunden hatte, bat ich eine Freundin es abzuholen, da die Leute, die es verkauften in ihrer Nähe wohnten. Mein erstes Besteckset. Wie freute ich mich! Als ich es dann in Gebrauch nahm, fiel mir auf, wie schwer es war und ich empfand es zunehmend als störend und unangenehm. Nach einiger Zeit gab ich es an ein Gebrauchtwarenhaus ab. Ich entdeckte ein anderes Set in den Kleinanzeigen. Ich schrieb die Person an und erhielt keine Antwort. Nicht am selben Tag und auch nicht am nächsten Tag und auch nicht in der nächsten Woche. Ich schrieb die Person nochmals an. Ich bekam als Antwort, das Besteck sei noch da, ich könne vorbeikommen und es abholen. Auf meine Frage hin, wann und wo ich es abholen könne, erhielt ich keine Antwort mehr. Tags drauf war die Anzeige gelöscht. Sollte ich mich mit meinem Bestecksammelsurium vielleicht doch abfinden? Dann blätterte ich ganz beiläufig das dem Wochenspiegel beiliegende Prospekt von Aldi durch und entdeckte im Angebot der folgenden Woche: Besteck. Mein Wunsch flammte wieder auf. Als ich am Tag des Angebots zu Aldi kam, war das Besteck ausverkauft.

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Bunte Welt

Ich begegne ihm ab und an auf dem Weg in den Garten. Er trägt Röcke und Kleider. Als ich ihn zum ersten Mal sah, stutzte ich. Die Person passte so gar nicht in die Schublade Mann oder Frau. Aber warum nicht, dachte ich. Wenn Frauen Hosen tragen, dann dürfen Männer doch auch Röcke und Kleider tragen. Gleiches Recht für alle.
An der Brottheke bedient ein junger Mann, geschminkt mit Lippenstift, Rouge und Eyeliner. Auch hier bleibt mein Blick beim ersten Mal hängen. Auch er passt so gar nicht in eine Kategorie. Und dann genieße ich seinen Anblick: Jemand, der in kein Muster passt, der zu sich steht. Ich bewundere seinen Mut und genieße sein außergewöhnliches Auftreten. Die Welt ist vielfältiger und bunter als die Kategorien, die uns so vertraut sind. Und ich schätze es sehr, dass Menschen sich trauen so zu sein, wie sie sind.

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Neid II

Sie ist seit zwei Jahren in Rente. Jetzt hat sie Zeit und ausreichend finanzielle Mittel. Letztes Jahr war sie dreimal in Urlaub. Sie hat einfach eine Idee, schaut im Internet nach Flügen, bucht und verreist. Sie ist an keine Schulferien mehr gebunden und kann ganz frei über ihre Zeit verfügen. Darum beneide ich sie so sehr. So gerne wäre ich großzügiger und würde mich mit ihr freuen. Und ich bin es leider nicht.
Ich erzähle jemandem, dass ich eine Woche Pauschalurlaub in der Türkei mache. Sie sagt, dass sie mich beneide. Ich bin erstaunt. Wird es immer etwas geben, das wir beneiden?
Wie schwer fällt es mir immer wieder, ganz bei mir zu bleiben und wertzuschätzen, was ich habe.

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Wofür würde ich Geld bezahlen?

Ich spüle Geschirr und höre nebenher Radio. Ich kriege nur mit einem halben Ohr mit, worum es in der Sendung geht. Plötzlich horche ich auf, als die Sprecherin fragt: “Würden Sie für die Arbeit, die Sie machen Geld bezahlen, um sie ausführen zu dürfen?” Wofür schlägt mein Herz so stark, dass ich dafür Geld bezahlen würde, beginne ich mich zu fragen. Für den Garten, ja, da würde ich Geld bezahlen, um dort buddeln, anpflanzen und ernten zu dürfen. Und um meine Seminare geben zu dürfen und meine Geschichten schreiben zu dürfen. Und auch dafür, dem einen oder anderen Schüler Deutsch als Zweitsprache näherbringen zu dürfen. Soviel von dem was ich mache, erfüllt mich? Mit dieser Bilanz bin ich sehr zufrieden.

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Pfingstsonntag

Ich bin müde und erschöpft. Eigentlich brauche ich Ruhe und Erholung. Ich möchte den Tag auf dem Sofa verbringen mit einem spannenden Buch und weiter nichts. Es ist Pfingstsonntag, das Perspektiv-Festival findet gerade statt und in der Nacht zum Montag ist die Nacht der Kirchen mit vielen interessanten Angeboten. Kann ich mir das alles entgehen lassen? Die Nacht der Kirchen ist immer nur einmal im Jahr und da soll ich auf dem Sofa liegen bleiben? Beim Festival spielt heute Abend eine französische Gruppe. Da könnte ich doch hingehen, wenn ich mich ausgeruht habe? Wenn ich zu der einen Veranstaltung nicht gehe, dann doch zur anderen? Ich koche und esse. Es fängt an zu regnen. Das ist die beste Ausrede, um auf dem Sofa zu bleiben. Ich ziehe mir die Decke über den Kopf und döse eine Weile. Dann kommt die Sonne raus. Dann könnte ich doch in den Garten radeln, geht es mir durch den Kopf. Ich finde einfach keine Ruhe. Der Himmel zieht sich wieder zu. Ich radle nicht in den Garten. Ich mache einen Abendspaziergang. Vielleicht spaziere ich doch noch zum Konzert der französischen Gruppe? Es lässt mich einfach nicht los. Ich drehe um und gehe nach Hause. Ich bin schließlich nirgendwo hingegangen und habe mich den ganzen Tag damit rumgequält.

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Mich zeigen

Roman liest regelmäßig meinen Blog und bewundert meinen Mut, mich zu zeigen. Rita ist auch sehr berührt davon. Beide Rückmeldungen überraschen mich. Das bin doch einfach nur ich, ich habe nichts zu verbergen, denke ich. Später frage ich mich: Was zeigen denn andere von sich? Und was zeige ich, was die anderen für mutig halten? Wo ist da eigentlich die Grenze? Wo bedeutet es für mich selbst Mut, etwas zu zeigen und wo nicht? Und zeige ich mich wirklich? Sicherlich gibt es auch Seiten, die ich nicht gerne zeige. Wie unterschiedlich aber die Grenzen sein können, was uns angenehm ist zu zeigen und was nicht, das überrascht mich.

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Achtsamkeit

Alle Teilnehmenden im Seminar sind mit ihrem Thema beschäftigt. Ich bemerke ein zerknülltes Arbeitsblatt, das auf dem Boden neben einer Teilnehmerin liegt. Wie schade, denke ich, ich habe mir solche Mühe gemacht, dieses Arbeitsblatt zu schreiben und nun liegt es zerknüllt am Boden. Ich erinnere mich an eine Situation vor vielen Jahren in Neuseeland. Eine Deutsche, die in Wellington lebte, besuchte mich. Wir gingen in einem Supermarkt zusammen einkaufen. Irgendwann rief sie mir lautstark etwas über die Gänge hinweg zu, so dass sich andere nach uns umdrehten. Es war mir so unangenehm, dass alle mitbekamen, dass wir Deutsche sind. Ich hätte mir Achtsamkeit gewünscht, ein Sprechen in normaler Lautstärke, kein lautes Rufen. In diesem Moment im Seminarraum wird mir bewusst, in welcher Vielfalt von Situationen mir Achtsamkeit wichtig ist, gegenüber Sachen, gegenüber Menschen und Tieren und der Umwelt.

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Der Tod

Ich kann nicht einschlafen und wandle gegen Mitternacht noch einmal in die Küche. Ich schaue aus dem Fenster, nirgendwo brennt Licht. Alle scheinen zu schlafen. Mitten auf dem Parkplatz unserer halbrunden Wohnanlage steht ein VW-Transporter mit geöffneter Heckklappe. Zieht zu so später Stunde noch jemand ein oder aus? Das ist unwahrscheinlich. Und wieso nur steht dieser Transporter mit geöffneter Heckklappe da? Die hinteren Fenster sind verdeckt, sind das Gardinen? So etwas haben doch Leichenwagen, oder? Auf dem Wagen ist keine Aufschrift, die das erkennen ließe. Ich bleibe stehen und schaue weiter in die Nacht. Nach einer Weile sehe ich durch den Eingang des Mittelflügels Schatten im Flur, die sich zwischen Aufzug und Tür hin und her bewegen. Sie drehen und bücken sich. Was tun sie dort nur? So viel Aktivität um Mitternacht, wundere ich mich. Schließlich öffnet sich die Tür und drei Männer schieben einen Sack – einen Leichensack! auf einem Rollwagen zum VW-Transporter. Sie schieben die Leiche hinein, schließen die Heckklappe und fahren los. Also war es wirklich ein Leichenwagen, denke ich. Aber warum wird ein Toter um Mitternacht abtransportiert? Damit im Haus alle schlafen und es niemand mitbekommt? Muss der Tod so geheimgehalten werden, darf niemand mit ihm konfrontiert werden? Er gehört doch zum Leben dazu.

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