Prioritäten

Als ich mit dem Studium fertig war, schauten sich meine Kommilitonen nach einer Anstellung um. Ich konnte mir so gar nicht vorstellen, das gleiche zu tun und in ein geregeltes Leben einzusteigen und für die Rente zu arbeiten.
Als ich Paul kennenlernte und er von einem eigenen Haus mit Frau und Kindern schwärmte, langweilte mich diese Vorstellung nur. Auf einer Party des Goethe-Instituts lernte ich einen Inder kennen. Das fand ich viel spannender und besuchte ihn später im Jahr für zwei Monate. Ich entschied mich, zu ihm nach Neu Delhi zu ziehen, er wurde mein Mann. War das mutig? Ich ließ mich auf 45° C und mehr im Sommer ein, auf Strom- und Wassersperren, auf 38° mit 90% Luftfeuchtigkeit im Monsun, auf Kakerlaken, bettelnde Kinder und leprakranke Bettler auf den Straßen. Ich lernte die Welt und das Leben aus einer anderen Perspektive kennen. Die Jahre dort haben meinen Horizont erweitert. An die Rente habe ich da nicht gedacht. Nach drei Jahren ging ich zurück nach Deutschland. Mein Mann kam mit, konnte aber in Deutschland beruflich nicht Fuß fassen. Er ging nach Neuseeland und ich folgte ihm. Wieder traf ich auf eine ganz andere Welt, mit dem Stern des Südens am Firmament, dem Sommer im Dezember, dem Winter im Juli und mehr Schafen als Menschen. War das mutig? An Rente dachte ich immer noch nicht. Die Ehe ging auseinander und da es für mich beruflich in Neuseeland immer schwieriger wurde, entschloss ich mich nach vier Jahren, nach Deutschland zurückzukehren. War das mutig? Ich habe immer genug Geld verdient, um das zu machen, was ich mochte, in einem bescheidenen Umfang. Ich wohne in einer Mietwohnung und fahre ein 14 Jahre altes Auto. Ich werde nie ein Haus oder eine Wohnung besitzen oder mir ein neues Auto kaufen. Ich hatte einfach immer andere Prioritäten.

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