Ich lerne die zwölfjährige Tanja und ihre Pflegemutter Bettie auf der fünftägigen Silvesterfreizeit kennen. Tanja fällt mir sofort durch ihr Verhalten auf. Wiederholt ruft sie mir am Tag „Hallo“ zu und winkt dabei. Sie unterbricht lautstark Gespräche am Frühstückstisch oder beim Mittagessen: „Ich hol mir jetzt noch Tee!“ Und kurz darauf: „Ich finde den Tee total lecker. Magst du den Tee?“ Chippy, ihr Stofftier ist überall mit dabei und Tanja fügt hinzu: „Chippy mag den Tee auch.“ Oder: „Willst du Chippy mal halten?“ Als wir abends spielen, reagiert Tanja ablehnend: „Nein, das Spiel will ich nicht spielen. Das auch nicht. Und das Spiel da ist doof.“ Als wir dann später alle in verschiedene Spiele vertieft sind, geht sie von Tisch zu Tisch und gibt weitere Kommentare ab. Mich strengt Tanjas Verhalten an. Bettie erklärt mir auf meine Nachfrage hin, dass Tanjas Mutter alkoholkrank ist und dass Tanja sich deswegen während der Schwangerschaft nicht normal entwickeln konnte. Bettie behält die Ruhe und geht liebevoll auf Tanja ein. Manches Mal sehe ich sie erschöpft seufzen. Am dritten Tag ergibt es sich, dass Tanja tatsächlich bereit ist, ein Spiel mit mir zu spielen. Ich entdecke eine ganz andere Seite an ihr. Ich erlebe sie ganz ruhig und konzentriert und gebe ihr die Rückmeldung, wie angenehm ich es finde, sie so zu erleben. Ab da ist das Eis zwischen uns gebrochen. Als wir uns am Ende der Freizeit voneinander verabschieden, fließen Tränen bei ihr. Ich nehme sie in die Arme: „Ja, es ist traurig, jemanden zu verabschieden, den man liebgewonnen hat.“
Wann bist du zum letzten Mal einem Menschen begegnet, mit dem du Mühe hattest? Warst du bereit, dich auf ihn oder sie einzulassen?