Frau Professor

Ich gebe in der Hochschule für Musik ein Seminar. Neun Angestellte und Student*innen sind angemeldet. Ich richte mich ein, lege alles bereit, was ich brauchen werde. Die ersten trudeln ein. Eine Frau kommt auf mich zu und spricht mich an: Sie sei nicht angemeldet, ob sie an dem Workshop noch teilnehmen könne. Ja, sage ich, gerne. Zu Anfang frage ich, ob es für alle in Ordnung sei, wenn wir uns während des Seminars duzen. Alle sind einverstanden. Ich reiche Kreppband herum und alle schreiben ihren Vornamen darauf und kleben ihn sichtbar auf Pullover oder Jacke. Ivanka heißt die Frau, die mich gefragt hatte, ob sie noch teilnehmen dürfe. Ich beginne damit, einen Überblick über das Seminar zu geben und die Teilnehmer*innen eine erste Übung machen zu lassen. Alle sind interessiert dabei. Bei der Auswertung der Übungen diskutiert die Gruppe miteinander und ein Teilnehmer spricht seine Nachbarin Ivanka mit ‚Frau Professor‘ an. Ich stutze. Bis dahin waren sie alle Frauen oder Männer mit einem Vornamen. Ich weiß nichts aus ihrem Leben oder von ihren Tätigkeiten oder ihrer Stellung an der Hochschule. Zu hören, dass da eine Professorin sitzt, verändert meinen Blick auf diese Person. Ich schaue plötzlich zu ihr auf und ich kann den Gedanken in mir beobachten: ‚So ein Titel wird nicht verschenkt. Er erfordert eine erhebliche akademische Leistung!‘ Plötzlich fühle ich mich ganz klein, habe ich doch gerade mal ein Diplom. Ich selbst bin über diese Gedankengänge überrascht, das hätte ich so nicht erwartet … Innerhalb weniger Sekunden habe ich mich wieder sortiert. Ich bin hier, um Ivanka und der ganzen Gruppe etwas über Gewaltfreie Kommunikation zu erzählen! Das ist jetzt und hier meine Aufgabe. Die innere Ruhe kehrt zurück und ich fahre mit meinem Seminar fort.

Nach oben scrollen