Christine Wanjura

Linksverkehr

In Neuseeland ist alles verkehrt herum: Der Verkehr fährt entgegengesetzt zu dem, was mir in Fleisch und Blut übergegangen ist, nämlich links. Wenn ich losfahren will, gehe ich ganz automatisch an die linke Seite des Mietautos und merke erst dann, dass das Lenkrad auf der rechten Seite ist. Nach jedem Parken und nach jedem Tanken will ich wieder aufs Neue auf der ‚falschen‘ Seite einsteigen. In der Stadt passe ich mich dem Verkehrsfluss an, das gelingt ganz gut. Als ich jedoch ein Wochenende in die Berge fahre und der Verkehr weniger wird, muss ich mich ganz bewusst darauf konzentrieren, auf der linken Seite zu bleiben. Irgendwann mache ich eine Pause. Als ich vom Parkplatz wieder auf die Straße fahre, stelle ich mit Schrecken fest, dass ich auf der rechten Fahrbahn fahre und lenke sofort nach links rüber. Gott sei Dank kam mir gerade niemand entgegen. Ganz besonders irritierend finde ich es, wenn ich mal mit jemandem mitfahre. Ich sitze dann auf der mir gewohnten Fahrerseite und habe weder Lenkrad noch Pedale. Meine Füße jedoch bremsen ganz automatisch bei jeder roten Ampel mit.
Wenn ich zu Fuß unterwegs bin und eine Straße überqueren will, schaue ich automatisch in die falsche Richtung. Von links kommt kein Auto, da ist immer frei. Einmal betrete ich die Fahrbahn und höre ein lautes Hupen. Da erst begreife ich, dass ich nach links anstatt nach rechts geschaut habe. Gott sei Dank ist nichts passiert. Als Fußgängerin in der Stadt oder auf Rolltreppen in einem Einkaufszentrum wundere ich mich, dass ich öfter Menschen anremple, bis ich auch da begreife, dass ich auf der falschen Seite gehe oder stehe. Sobald ich das Haus verlasse, muss ich mich auf den Verkehr konzentrieren. Die erste Woche und vielleicht noch länger bin ich abends völlig erschöpft.

Hast du schon einmal eingefleischte Gewohnheiten umstellen müssen? Was ist dir dabei alles passiert?

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Kia Ora in Aotearoa – Willkommen im Land der langen weißen Wolke

Wenn ich in Deutschland in einem Lokal ein Bier bestellen möchte, sage ich: „Ein Bier bitte!“ und es erregt keinerlei Aufsehen. Wenn eine Neuseeländerin ein Bier bestellen möchte, sagt er oder sie: „Könnte ich bitte ein Bier haben?“ Alles wird hier freundlich eingepackt, umschrieben und durch die Blume gesagt. Nichts wird direkt angesprochen oder ausgesprochen. Wenn ich hier „Ein Bier bitte“ sage, werde ich auch auf Grund meines Akzents als Deutsche identifiziert. Wir gelten hier als effizient, direkt und dadurch oft verletzend. Ein anderer Unterschied, über den ich gestolpert bin, ist die Frage: „How are you?“ Sie wird immer und überall gestellt, an jeder Supermarktkasse, in jedem Café, beim Tanken, im Vorbeigehen an einer Parkbank. Und es wird als Antwort nichts weiter erwartet als die Standardfloskel: „I’m good, thanks. How are you?“ Noch ein weiterer auffälliger Unterschied ist, dass jede Erfahrung, sei es ein Ausflug, ein Essen, eine Wanderung oder ein Kinobesuch, positiv kommentiert wird: „Oh, ja, das war eine schöne Wanderung.“ Oder: „Das war ein toller Film!“ Es ist immer und alles positiv. Vielleicht am Ende wird in einem kurzen Nebensatz erwähnt, dass das Wetter nicht durchgängig so gut war, oder dass der Film ein paar Längen hatte, mehr aber nicht. Für mich war es eine Herausforderung und eine Anstrengung, alles was ich gesehen, gemacht oder erlebt hatte, positiv zu erzählen. Ich empfand es im Grunde als unehrlich, so etwas zu sagen, wenn es bei der Wanderung nur geschüttet hatte oder mir der Film nicht gefallen hatte. Hier aber gilt es als respektlos und unhöflich, dies so direkt zu formulieren. Die Unterschiede zwischen beiden Kulturen liegen nicht nur in den verschiedenen Sprachen, sondern auch in den Feinheiten, die einem keine*r erklärt und die einem erst nach längerer Zeit durch viele, auch schmerzvolle Erlebnisse erfahrbar werden.

Hast du dich schon einmal auf eine andere Kultur eingelassen? Welche Unterschiede sind dir dabei aufgefallen?

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Neugier

Ich unterrichte Deutsch als Zweitsprache. Ich habe große Freude daran zu erraten, welche Muttersprache jemand spricht. Meistens kann ich den Kontinent erraten, oder ob es eine östliche oder nordische Sprache ist, manchmal auch das Herkunftsland, aber nicht immer.
Ich sitze in Offenburg in der Fußgängerzone auf einer Bank und esse ein Eis. Eine Frau setzt sich neben mich. Wir fangen an zu plaudern. Ich höre in ihrem Deutsch einen leichten Einschlag einer anderen Muttersprache. Ich erzähle ihr, dass ich Lehrerin für Deutsch als Zweitsprache bin und immer neugierig, woher Menschen kommen. „Was ist Ihre Muttersprache?“, frage ich sie. „Ich lebe seit dreißig Jahren in Deutschland“, erwidert sie, „und immer wieder fragen mich Menschen, woher ich komme. Ich finde das völlig unpassend bei einer so flüchtigen Begegnung!“ Und unser Gespräch ist beendet.
Zwei Monate später fahre ich mit dem Zug von Paris zurück nach Saarbrücken. Drei Personen steigen ein. Der Mann setzt sich auf den freien Platz neben mir und die beiden Frauen auf die Plätze auf der anderen Seite des Ganges. Sie sprechen eine mir völlig unbekannte Sprache, die ich so gar nicht einordnen kann. Ich überlege, ob ich den Mann darauf anspreche? Wird er sich auch über meine Frage ärgern? Ich zögere. Und dann siegt meine Neugier. Ich beginne das Gespräch damit, dass ich erkläre, was ich beruflich mache. Der Mann lächelt mich freundlich an und erklärt mir, dass sie Letten seien. Ein freundliches und interessantes Gespräch entwickelt sich, während seine Frau und seine Tochter schlafen. Ich freue mich über diese herzliche Begegnung.

Traust du dich, Menschen bei flüchtigen Begegnungen auf das Thema anzusprechen, das dich interessiert? Wie gehst du damit um, wenn jemand unfreundlich reagiert?

Danke, lieber unbekannter Lette.

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Die Bitte

Er erzählt mir, dass er Corona hatte und 5 Tage in Quarantäne war. Er hat dann seinen Nachbarn gebeten, für ihn einzukaufen. Leider war der Nachbar genau zu dem Zeitpunkt gestürzt und konnte sich nur unter Schmerzen bewegen. Der fiel also aus. Na ja, er sei nicht verhungert, erzählt er weiter. Er hätte noch genug in der Tiefkühltruhe gehabt. So habe er die auch mal wieder leer gemacht. Ich habe einen Garten und der liegt vielleicht dreihundert Meter von seiner Straße entfernt. Ich fahre, wenn auch nicht jeden Tag, so doch jeden zweiten dorthin. Das weiß er. Mit Freude hätte ich ihm das ein oder andere besorgt und ihm vor die Tür gestellt. Ich bin fast enttäuscht, dass er mich nicht gefragt hat.

Wie gehst du damit um, wenn du etwas von anderen brauchst? Kannst du Menschen bitten?

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Analphabeten

Ich erzähle ihr: „Ich habe zwei neue Schüler, Bruder und Schwester, 10 und 12 Jahre alt in meinem Deutsch-als-Zweitsprache-Unterricht. Ich habe mit den beiden begonnen wie mit allen anderen auch. Dann bemerke ich, dass sie die Buchstaben malen und nicht schreiben und dass sie kaum lesen können. In dem Buch, mit dem ich üblicherweise beginne, werden schon auf den ersten Seiten Transferleistungen verlangt. Von einer Verbtabelle sollen die Verben in einer Aufgabe in der richtigen Personalform eingesetzt werden. Damit sind die beiden völlig überfordert.“ – „Ja, da gibt es doch ganz viel Material für Analphabeten. In der Schule steht doch auch das Lehrwerk ‚Alphamar‘ „, unterbricht sie mich. „Moment“, hake ich ein, „die Geschichte ist noch nicht zu Ende. Ich habe rumgesucht, um ein passendes Lehrwerk zu finden und habe jetzt auch eins gefunden. Das ist ganz einfach aufgebaut und ohne Transferleistungen. Sie verstehen sofort, was sie machen sollen und haben auch noch Freude dabei. Damit kommen sie gut klar. Ich bin ganz erleichtert.“

Unterbrichst du andere, weil du schon eine Lösung weißt, wenn sie dir etwas erzählen? Fällt es dir schwer, anderen zuzuhören, bis sie zu Ende erzählt haben?

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Erde

Ich verbringe drei Tage in einer Großstadt: Dichter Verkehr, Autos, Busse, Motorräder, Abgase, Gehupe. Fahrräder, E-Scooter, die aus allen Richtungen kommen. Menschen, die sich auf dem Bürgersteig aneinander vorbei drängeln. Menschentrauben, die an einer Ecke herumstehen, ohne dass ersichtlich ist, warum sie da stehen und durch die man sich hindurchquetschen muss. Menschen mit Taschen, mit Kinderwagen, mit hechelnden, gestressten Hunden. Hitze. Hitze, die der Beton zurückstrahlt. Häuserschluchten ohne jedes Grün. Vor manch wenigen Fenstern ein Blumenkasten. Nur vor wenigen. Die Erde ist komplett versiegelt. Urinpfützen. Stark riechende Menschen, die lange, sehr lange nicht geduscht oder ihre Kleider gewaschen haben. Verschmierter Hundekot auf dem Bürgersteig, Menschen, die eine Wolke von Parfüm hinter sich herziehen. Menschen, die auf Pappkarton in Eingängen übernachtet haben.
Zu Hause. Endlich wieder zu Hause. Ich ziehe meine Schuhe und die Socken aus und laufe barfuß durch den Garten. Um mich herum nur Ruhe und Vogelgezwitscher. Und Natur pur. Was für ein Genuss es ist, wieder den direkten Kontakt zur Erde unter meinen Füßen zu spüren.

Was bedeutet dir die Natur? Wann bist du das letzte Mal barfuß gelaufen oder hast Erde in der Hand gehalten?

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Duschen

Ich bin eine Abendduscherin und das schon so lange ich denken kann. Ich habe das Bedürfnis, abends den Tag mit seinen vielfältigen Ereignissen abzuspülen und frisch und unbelastet ins Bett zu gehen. Es ist ein verregneter Sommertag. Ich sitze den ganzen Morgen am PC und arbeite. Mir wird kühl, ich ziehe mir einen dünnen Pulli über und arbeite weiter. Mittags koche und esse ich. Mir wird immer noch nicht wärmer. Ich überlege, mir Wollsocken anzuziehen. Aber das im Sommer? Ich könnte ja auch duschen, um mich aufzuwärmen, kommt mir die Idee. Am frühen Nachmittag? Ich dusche doch abends und nur ganz selten mal morgens, wenn ich am Abend vorher nach einer Veranstaltung zu spät nach Hause gekommen bin. Es widerspricht so ganz meinen Gewohnheiten. Einfach so am Nachmittag duschen, das geht irgendwie nicht. Ich zögere. Bis abends ist es noch lange hin. Also doch lieber Wollsocken anziehen? Und warum eigentlich nicht: duschen! Wer oder was hindert mich daran, außer das es gegen meine Gewohnheiten ist? Ich gebe mir einen Ruck und dusche mitten am Nachmittag. Es erfrischt und wärmt mich angenehm auf.

Hast du Gewohnheiten, an denen du sehr hängst? Weißt du, bei welchen du so eingefahren bist, dass sie dich richtig behindern können?

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Spaziergang am Rhein

Ich mache einen Tagesausflug nach Mannheim und besuche einen Freund. Er lädt noch eine Freundin ein, die uns begleitet. Es ist schönes Wetter und wir gehen am Rhein spazieren. Ich möchte den Weg genießen und die Natur. Ich höre den Rhein, der hinter Bäumen versteckt fließt und möchte schauen, ob ich ihn erblicken kann. Sie erzählt, wie sie mit einer Freundin in Kopenhagen gewesen und die Freundin völlig verändert gewesen sei. Sie habe sie nicht wiedererkannt. Dann, nach vielen Arztbesuchen seit ihrer Reise, wurde bei der Freundin Alzheimer festgestellt. Jetzt wisse man zumindest, was los sei. Als sie die Freundin jetzt besucht habe, sei die wieder ganz die Alte gewesen. Vermutlich, weil sie wieder in ihrer gewohnten Umgebung gewesen sei. Wir lassen uns in einem wunderschönen Gartenlokal unter alten Bäumen nieder. Ich möchte die Atmosphäre aufsaugen, den Blick schweifen und die Seele baumeln lassen. Sie erzählt, dass hier alle Bäume gefällt werden sollen, damit man den Hochwasserdamm am Rhein besser mit schwerem Gerät sichern könne und dass sie sich in einer Bürgerinitiative gegen die Baumfällung engagiere. Dann erzählt sie von einem Video auf YouTube, in dem eine Frau mit ihrem Mann in einer Schlange gestanden und gewartet habe. Das Video sei so witzig gewesen – sie habe Tränen gelacht und es habe viele Tausend Klicks bekommen. Wir spazieren weiter und kommen an die Stelle, wo der Altrhein in den Rhein mündet. Familien grillen und einige baden im Altarm. Es fühlt sich wie im Urlaub an. Sie erzählt von einem Klienten, der in der Produktion von Katzenstreu beschäftigt gewesen sei. Die Fabrik sei auf zwei Etagen gewesen und Katzenstreu durchlaufe viele verschiedene Verfahren. Es würde zerkleinert und gereinigt und käme dann in die Qualitätskontrolle, bis es schließlich in der Verpackungsstation lande. Es würde sogar bis nach Neuseeland verschickt.

Achtest du darauf, anderen im Gespräch Raum zu geben?

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Bewertungen

Ich gebe ein zweitägiges Seminar für zehn Teilnehmer*innen. Am Ende sollen sie anonym einen Auswertungsbogen für den Veranstalter ausfüllen. Nach Beendigung des Seminars, als alle gegangen sind, schaue ich mir die Bögen durch. Die erste Auswertung ist sehr positiv. Die Person hat bei allen Punkten, die zu Inhalt, Struktur und Präsentation aufgeführt werden, die maximale Punktzahl gegeben und würde das Seminar weiterempfehlen. Auch auf den nächsten Bögen wird das Seminar mit ‚gut‘ oder ’sehr gut‘ bewertet und das Kästchen ‚Ich würde das Seminar weiterempfehlen‘ ist angekreuzt. Dann kommt ein Bogen, auf dem es zwar auch positiv bewertet wird, aber am Ende angekreuzt ist: ‚Ich würde das Seminar nur bedingt weiterempfehlen.‘ Ich stutze und bin überrascht. Sofort geht mein Kopfkino los: Was hat die Person denn schlecht gefunden? Was hat ihr bloß nicht gefallen? Und kann es wirklich sein, dass alle Teilnehmer*innen das Seminar weiterempfehlen würden und nur eine einzige Person nicht? Und dann stoppe ich mich. Nein, ich gebe meinem Kopfkino keinen Raum. Worauf will ich Gewicht legen? Auf das Positive oder auf das Negative? Es liegt ganz bei mir zu entscheiden, ob ich auf die neun Empfehlungen schaue oder auf die eine nur bedingte.

Wohin geht deine Aufmerksamkeit, wenn du etwas Kritisches über deine Arbeit hörst?

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Eis essen 

Ich kaufe mir ein Eis, setze mich auf eine Bank und genieße es in Ruhe. Eine junge Familie mit einem kleinen Mädchen hat sich auch eins gegönnt. Ich sehe, wie das Eis des Mädchens an ihrem Kinn und an der Waffel heruntertropft. Das Mädchen hebt ihr Kleidchen hoch und wischt sich damit den Mund ab. Dann höre ich die Mutter sagen: „Wisch dir den Mund doch nicht damit ab!“ Das kleine Mädchen erstarrt und schaut hilflos drein. Und auch ich frage mich: Was soll sie denn jetzt tun, wenn sie nichts anderes hat?

Kennst du solche Sätze aus deiner Kindheit, wo dir nur gesagt wurde, was du nicht tun sollst, ohne einen Hinweis darauf, was du stattdessen tun sollst?

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