Christine Wanjura

Flugbegleiterin

Wir gehen zu viert spazieren. Ich plaudere mal mit der einen Person, mal mit der anderen. Mit einer von ihnen komme ich ins Gespräch, als sie erwähnt, dass sie Flugbegleiterin war. Ich freue mich auf einen Austausch von Erfahrungen über ferne Länder mit ihr und erzähle, dass ich in Delhi gelebt habe. Daraufhin beginnt sie den Akzent zu imitieren, den Inder haben, wenn sie Englisch sprechen. Ich reagiere nicht darauf. Was sollte ich dazu auch sagen? Ich habe das in meinen Jahren in Delhi tagtäglich gehört. Dann erzählt sie von einem jungen Mann, den sie im Vorbeifahren aus dem Crewbus heraus gesehen habe, der sich am Straßenrand gerade entleert hatte und über das ganze Gesicht strahlte. Sie wisse nicht mehr genau, ob es in Delhi war … oder Mumbai … Ja, auch ich habe das jeden Morgen auf dem Weg zur Arbeit erlebt. Das sind mir keine fremden Erlebnisse. Mehr erzählt sie nicht und hakt auch bei mir nicht weiter nach. Das Gespräch über Indien ist damit leider beendet.

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Rote Bete

Ich habe meine Rote Bete aus Samen gezogen. Ich habe sie im Frühjahr auf der Fensterbank in einen Blumenkasten gesetzt und sehnsüchtig darauf gewartet, dass die ersten Blätter keimen. Als sie ca. 3 cm groß waren, habe ich sie in den Garten gepflanzt. Dort habe ich sie mit viel Liebe, Pflege und Wasser durch den heißen Sommer gebracht. Im Oktober habe ich die ersten Knollen geerntet und sie als Salat gegessen. Im Dezember war ich erst an Corona erkrankt und dann folgte ein zäher Atemwegsinfekt, der mich sehr beutelte. Und dann kam der Frost. Durch die Erkrankung war mir der Garten völlig aus dem Sinn geraten. Sonst verfolge ich auch das Wettergeschehen oder habe einen Blick auf das Wetter, was ich diesmal durch das Kranksein völlig vergaß. Erst als der Frost nachließ, war ich wieder im Garten. Die Rote Bete waren erfroren. Es tat mir so leid! Es hat mich erschüttert. Ich hatte sie aus dem Samen gezogen, sie durch den heißen Sommer gebracht — und dann nicht darauf geachtet, sie vor dem Frost zu schützen.

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Max Ophüls Filmfestival

In Saarbrücken findet jedes Jahr das ‚Max Ophüls Filmfestival‘ statt. Vor vielen Jahren ließ ich mich von der Energie des Festivals mitreißen. Menschen in meinem Umkreis fieberten dem Festival entgegen, nahmen sich eine Woche Urlaub, um sich alle Filme ansehen zu können. Der Chef einer kleinen Firma lud jedes Jahr seine Mitarbeiter zu einem Film ein. Ich ließ mich von dem Festivalfieber anstecken. Ich musste das Programm aber eingehend studieren, bis ich einen Film fand, der mich ansprach. Für das Ticket musste ich in einer sehr langen Vorverkaufsschlange anstehen. Am Abend der Vorführung drängelte sich eine Menschenmenge im Foyer des Kinos. Es war heiß und stickig. Ich sah mir den Film an und er langweilte mich. So viel Aufwand für so wenig Freude? War es das wert? Was nur begeistert die Menschen an diesem Filmfestival, fragte ich mich. Es dauerte eine Zeit, bis ich endlich meine Einstellung wandeln konnte: Was andere Menschen begeistert, muss nicht auch zwangsläufig mich begeistern. Damit konnte ich das Festival für mich loslassen.

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Feuer machen

Jutta und ich hatten die Aufgabe übernommen, abends ein Lagerfeuer zu machen. Durch den Regen tagsüber war alles nass und es war windig. Wir hatten zwar trockenes Holz, aber kein Kleinholz, um das Feuer in Gang zu bringen. Wir schichteten zerknülltes Zeitungspapier und dicke Holzscheite übereinander. Das Papier brannte zu schnell ab, um das Holz entzünden zu können. Wir versuchten, mit einem Taschenmesser kleine Stücke Holzspäne von einem dicken Klotz abzuschneiden. Wieder schichteten wir Zeitungspapier, Holzspäne und Holzscheite übereinander. Das Feuer hielt erst einmal. Ich platzierte die dicken Scheite so, dass sie möglichst auch Feuer fingen, ohne die noch spärlichen Flammen zu erdrücken und Jutta schaute zu. Irgendwann meinte sie: „Lass das Feuer doch mal in Ruhe, sonst geht es wieder aus!“ ‚Hmm‘, schoss es mir in den Sinn, ‚ich mache jedes Jahr einige Lagerfeuer in meinem Garten und habe in meinem Leben bestimmt schon mehr in Gang gebracht als sie.‘ Und dann machte es wie einen Klick in meinem Kopf und ich konnte innerlich loslassen. ‚Lass sie mal‘, dachte ich dann. ‚Du bist mehr als doppelt so alt und hast diese Erfahrungen. Gib ihr die Gelegenheit, welche zu sammeln.‘

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Weiß

Vor dem Bürgeramt steht ein Mann mit dunkler Hautfarbe, eine person of colour. Als ich näher komme, tritt er auf mich zu. Meine erste Vermutung ist, dass er Geld möchte. „Sie sind weiß und tragen weiße Schuhe. Ich bin schwarz und trage schwarze Schuhe,“ ist alles, was er sagt. Ich bin verblüfft über seinen Kommentar und lächle ihn freundlich an. Er wünscht mir noch einen schönen Tag und geht.
Gedanken strömen auf mich ein: Ich habe freien Zugang zu Bildung, ich habe sauberes Wasser, das jederzeit aus dem Hahn fließt, wenn ich es möchte. Als ich vor Jahren in einer schwierigen Situation war, bekam ich für eine kurze Zeit Sozialhilfe. Ich musste noch nie hungern oder um meine Wohnung bangen. Zum ersten Mal nehme ich ganz bewusst meine Privilegien wahr, in die ich hineingeboren wurde.

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Hello Fresh

Eine Freundin von mir ist von Hello Fresh begeistert. Jede Woche erhält sie ein Paket mit drei Mahlzeiten, der exakten Anleitung, wie die Gerichte zuzubereiten seien und mit allen dafür notwendigen Zutaten. Das macht mich neugierig, und die Fotos der vorgegebenen Gerichte, die dem Paket beiliegen, sehen wirklich sehr einladend aus. Die Freundin schenkt mir einen Gutschein und ich löse ihn sogleich ein. Das Paket trifft schließlich bei mir ein und ich öffne es mit großer Erwartung. Beim Auspacken der vielen unterschiedlichen Sachen überkommt mich eine innere Rebellion. Nein, ich werde mich nicht an die Vorgaben halten. Ich will selbst entscheiden, was ich wie koche und stelle die Zutaten selbst zusammen. Keines der drei Gerichte sieht am Ende so aus wie auf den Fotos und sie sind trotzdem lecker.

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Sebastian

Ich nehme an einem Wochenendseminar teil. Die Mehrheit der Teilnehmenden ist Ende Zwanzig/ Anfang Dreißig und einige sind auch grauhaarig. Erst geselle ich mich zu meinen Altersgenoss*innen. Wir stehen mitten im Leben, haben viel erlebt und gesehen, sind gereift und gesetzt. Später dann zieht es mich auch zu den Jüngeren. Ich bin neugierig, wo die im Leben stehen, was sie begeistert. Ich genieße ihre Energie und ihre Sehnsucht, die Welt zum Besseren zu verändern. Am letzten Abend sitze ich mit Sebastian zusammen. Er hat gerade sein Studium beendet und schaut mit Neugier und Beunruhigung auf seine Zukunft. Er erzählt mir offen, was ihn beschäftigt und bewegt. Mit meinen 30 Jahren mehr Lebenserfahrung kann ich ihn bei manchem beruhigen, bei anderem ermutigen, ohne ihn in irgendeiner Weise zu beurteilen oder ihm Vorschriften machen zu wollen. Aufmerksam hört er mir zu und bedankt sich hinterher. Wie gerne hätte ich jemanden gehabt, der oder die mir mit offenem Herzen zugehört hätte, als ich so alt war. Es hat mich mit Freude erfüllt, dass meine Erfahrungen einem jungen Menschen etwas Klarheit und Sicherheit gebracht haben.

Hattest du jemanden, der oder die dir mit Rat und Tat zur Seite stand, ohne zu urteilen? Hast du heute jemanden, der oder die dir zur Seite steht?
Stehst du umgekehrt jemandem mit Rat und Tat zur Seite, ohne zu urteilen?

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Steak

Ich bin mit Fleisch zu den Mahlzeiten groß geworden. Meiner Erinnerung nach gab es, wenn nicht jeden Tag, so doch sehr oft Fleisch zum Mittagessen. Ich liebte Hühnchenkeulen und Ochsenschwanzsuppe und liebte es, die Knochen abzunagen. Was für ein Genuss. Als ich dann zum Studium in eine andere Stadt zog, lebte ich vegetarisch. Fleisch war einfach zu teuer. Während der Jahre in Indien lebte ich wieder vegetarisch. Die Familie, in die ich eingeheiratet hatte, waren Hindus und strikte Vegetarier. Das indische Essen ist auch so vielfältig, dass mir Fleisch wirklich nicht fehlte, und wenn ich mal im Muslimischen Viertel war und sah, wie das Fleisch verkauft wurde, im Freien hängend von einer Traube von Fliegen umgeben, verging mir auch jeglicher Appetit darauf.
In Neuseeland aß ich wieder Fleisch und Fisch. Ich liebte Fish & Chips und das Lammfleisch wurde ohne lange Transport direkt vor Ort produziert. Natürlich wusste ich, dass für Fleisch Tiere getötet wurden, aber es war für mich ein Lebensmittel wie jedes andere auch, wie Kartoffeln, Lauch oder Nudeln. Mit der Zeit wuchs mein Bewusstsein in Bezug auf das Tierwohl und ich kaufte nur noch Biofleisch und Biowurst. Und dann irgendwann veränderte sich etwas. Ich erinnere mich nicht an einen bestimmten Auslöser. Es war mehr so ein unmerkliches Hineinwachsen in die Haltung, dass es mir unangenehm wurde, Fleisch zu essen. Ich kaufte es einfach nicht mehr. Wurde ich eingeladen, fügte ich hinzu, dass ich lieber auf Fleisch verzichtete. Meine Wahrnehmung erweiterte sich von der eines reinen Lebensmittels auf die unangenehme Wahrheit, dass ein Tier für mein Steak sein Leben hatte geben müssen.
Konnte ich das mit meinem Gewissen vereinbaren? Vor kurzem wurde ich spontan zum Essen eingeladen und es gab Bratwurst. Ich habe sie gegessen und sie hat mir geschmeckt. Ich habe mich in Gedanken dafür bedankt, dass ein Tier sein Leben gelassen hat, um mich zu nähren.

Wie bewusst gehst du mit Nahrung um? Was bedeutet Fleisch für dich?

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Schlechter Kaffee

Ich mache an der Autobahnraststätte eine Pause und trinke einen Kaffee. Am Nebentisch sitzt ein Paar. Ich höre den Mann sagen: „Jetzt kann ich mich schon wieder aufregen. So ein schlechter Kaffee. Das kriegen die in Deutschland einfach nicht hin.“ Ja, stimme ich in Gedanken zu, der Kaffee an der Raststätte ist eher durchschnittlich. Aber bekommt wirklich ganz Deutschland keinen guten Kaffee hin? In der Stadt, aus der ich vor zwei Stunden losgefahren war, hatte ich  einen wirklich guten Cappuccino getrunken. In Saarbrücken kenne ich zwei Cafés, die guten Kaffee machen. Wie will er wissen, dass ganz Deutschland schlechten Kaffee macht? Kennt er sämtliche Cafés des Landes, jeder einzelnen Stadt?

Wie oft verallgemeinerst du Dinge? Wie oft schließt du von einer Tatsache, einem Ereignis auf alle anderen?

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Die Bürste

Ich nehme an einem verlängerten Wochenende an einem Seminar in einer sehr abgelegenen Region teil. Ich habe rechtzeitig gepackt und alles bedacht. Am Zielort merke ich erst am nächsten Tag, dass ich meine Haarbürste vergessen habe. Was tun? Am Seminarort gibt es keine Geschäfte und die Seminarzeiten lassen mir keinen Spielraum, in den nächstgrößeren Ort zu fahren. Sollte ich vielleicht eine andere Teilnehmerin bitten, mir ihre Bürste auszuleihen? Ich bin mir nicht sicher, ob das eine gute Idee ist. Ich freunde mich mit mit dem Gedanken an, mich drei Tage lang nicht zu kämmen. Ich habe glatte Haare, die sich nass gut legen lassen. Ob man trotzdem sehen wird, dass ich ungekämmt bin? Sollte ich mich gleich zu Anfang am Frühstücktstisch vor allen entschuldigen: „Ich bin leider ungekämmt. Ich habe dummerweise meine Bürste vergessen. Und dann denke ich: ‚Vielleicht merkt es ja gar keine*r! Das könnte ja auch sein? Und wenn, kann ich es immer noch erklären.‘ Und so vergesse ich den Tag über tatsächlich selbst, dass ich ungekämmt bin. Am Ende des Seminars hat mich niemand auf meine Haare angesprochen. Was andere gedacht haben, weiß ich nicht, aber es hat niemand meine Frisur kommentiert.

Wie gehst du mit Missgeschicken um? Entschuldigst du dich schon im Voraus, bevor überhaupt jemand etwas sagt?

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