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Aus dem (Lockdown-)Alltag ausbrechen

Es begann im November, im 2. Lockdown. Beim Surfen auf YouTube stieß ich auf viele ausländische Filme. In die meisten schaute ich nur kurz rein und klickte sie wieder weg. Bei anderen Filmen blieb ich hängen, die schaute ich mir dann in voller Länge an und schweifte mit ihnen in die Ferne. Mit einem argentinischen Protagonisten reiste ich durch die schier unendliche Pampa des Landes und tauchte in eine mir fremde Welt ein. Ich lauschte der unbekannten Fauna, betrachtete die fremde Flora und ließ mich von der Landschaft, der Hitze und den dortigen Gewohnheiten mitnehmen und fesseln. Für die Länge des Filmes war ich völlig und komplett dort. Bei Google Maps suchte ich anschließend nach dem Ort, an dem der Film spielte. Mit dem Routenplaner vollzog ich die Strecke nach, die der junge Mann zurückgelegt hatte und wie lange er dafür mit dem Bus unterwegs gewesen sein muss.
Nach einem brasilianischen Film googelte ich nach einem Gericht, das die Hauptdarsteller in einer Szene aßen und entdecke ein Nationalgericht Brasiliens. Ein Lied, das im Film gesungen wurde, begleitete mich tagelang und versetzte mich immer wieder an die Copacabana.
Mit einem schwedischen Film (mit deutschen Untertiteln) verbrachte ich kühle Sommerabende an einem See. Später schaute ich einige Vokabeln nach und weiß jetzt, was „Guten Morgen! Gut geschlafen?“ auf Schwedisch heißt. God morgon! Sovit gott?

Wie und wovon lässt du dich begeistern, um aus deinem (Lockdown-)Alltag auszubrechen?

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Raumwechsel

Es ist jetzt ein Jahr her: Ich hatte 16 Jahre lang einen eigenen kleinen Raum in der Schule. Die Wände hatte ich mit einer Weltkarte und den selbstgemalten Länderflaggen der Herkunftsländer meiner Schüler*innen dekoriert. Ich fühlte mich sehr wohl in dem Raum. Es war wie eine kleine Oase für mich und sicherlich auch für den einen oder die andere Schüler*in. Dann sprach mich eine Person aus der Schulleitung an, der Raum würde gebraucht und ich solle umziehen. Ich sagte: Nein! Das blieb dann erst mal so stehen. Einige Wochen später, morgens zwischen Tür und Angel, sagte sie mir dann: Das ist jetzt eine Anweisung. Du ziehst um! Der Raum wird anderweitig gebraucht.
Ich zog in einen anderen Raum um.
Die Geschichte hat zwei Aspekte für mich: Die sachliche Ebene und die persönliche Ebene. Zum einen, dass ich „meinen“ Raum aufgeben musste und zum anderen die Art und Weise, wie mir das mitgeteilt wurde. Inhaltlich kann ich durchaus nachvollziehen, dass der Raum für etwas anderes dringender gebraucht wurde. Auf der persönlichen Ebene jedoch hätte ein kurzes persönliches Gespräch den Schmerz für mich wesentlich gemildert, eine Erklärung, warum der Raum nun für andere Zwecke dringender gebraucht werde, vielleicht auch ein Bedauern, dass das nun notwendig sei. So lebt der Schmerz heute noch in mir.

Nehme ich mir angemessene Zeit, wenn ich jemandem etwas Wichtiges mitzuteilen habe? Und drücke ich Mitgefühl aus, wenn es etwas Unangenehmes ist?

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Das Eichhörnchen

Ich fahre zum Markt nach St. Ingbert. Am Ortsausgang, wo die Straße durch den Wald führt, sehe ich ein Eichhörnchen mitten auf der Gegenfahrbahn liegen. Es ist tot, aber noch unversehrt. Noch kein Auto ist drüber gefahren. Auf dem Rückweg, nach dem Einkauf, liegt das Eichhörnchen immer noch unversehrt auf der Straße. Es rattert in meinem Kopf: Lass ich es liegen? Es ist ja schon tot! Es ist doch egal, ob jetzt noch Autos drüber rollen oder nicht! Und dann macht es klick: Nein, es ist mir nicht egal! Ich halte an der nächstmöglichen Stelle. Ich laufe einige Meter zurück bis zu dem toten Eichhörnchen und suche mir herumliegende Äste. Ich habe noch nie ein Eichhörnchen von so nahem gesehen. Was für ein schönes Tier das ist! Mit den Ästen befördere ich es in den Graben und bedecke es mit Erde. Nein, ich konnte es nicht retten. Es ist tot und bleibt tot. Was sich für mich verändert hat? Dass es nicht von Autos überrollt und zerquetscht wird.

Hast du den Mut, etwas, das dir wichtig ist, auch dann zu tun, wenn es ungewöhnlich ist?

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Der LÜK-Kasten

In meinem Raum in der Schule ist ein Schrank, in dem viele meiner Unterrichtsmaterialien stehen. Einige davon habe ich auf eigene Kosten angeschafft, unter anderem auch sechs LÜK-Kästen. Die habe ich bei Ebay ersteigert und nutze sie immer wieder im Unterricht. Den Schrank kann ich abschließen und tue das auch. Alle Schränke in allen Klassen haben den gleichen Schlüssel und alle Lehrer*innen haben einen Schlüssel dafür. An diesem Tag öffne ich den Schrank, weil ich etwas brauche und ein LÜK-Kasten fällt mir buchstäblich entgegen. Als ich ihn greifen will, fallen die Plättchen heraus. Ich bemerke, dass viele Plättchen fehlen. Sofort rasselt es durch meinen Kopf: Wer meiner Kolleg*innen hat sich hier bedient und den LÜK-Kasten unvollständig zurückgestellt? Wie soll ich rausfinden, wer sich da bedient hat? Muss ich jetzt einen neuen LÜK-Kasten besorgen? Ich merke, wie die Wut in mir hochsteigt. Ich werde sofort ein gepfeffertes Rundmail an alle Kolleg*innen schreiben und fragen, wer den LÜK-Kasten ausgeliehen hat und die Person um einen neuen, vollständigen bitten. Bis ich nach Hause komme, kann ich mich mit Mühe ein bisschen beruhigen. Eine leise Stimme in mir flüstert mir zu: Warte bis nächste Woche! Warte, bis du nächste Woche wieder in der Schule bist und schau noch mal genau nach! Ich warte. Am Wochenende kann ich das Thema Gott sei Dank vergessen. Als ich in der nächsten Woche wieder in der Schule bin, gehe ich morgens als erstes an den Schrank und prüfe, ob die Plättchen nicht vielleicht schon beim Herausziehen des Kastens rausgefallen sind und diejenige ihn deswegen hat stehen lassen. Und tatsächlich liegen zwischen Büchern versteckt die Plättchen. Ich sammle sie ein und der unvollständige Kasten ist wieder komplett. Ich bin so erleichtert: Einmal darüber, dass ich keinen neuen LÜK-Kasten brauche und zum anderen, dass ich das Mail an alle Kolleg*innen nicht geschrieben habe.

Nimmst du deine innere Stimme wahr? Und hörst du auf sie?

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Gespräch mit einer Kollegin

Eine Kollegin und ich sitzen in meinem Raum. Sie wird einige Schüler*innen von mir noch zusätzlich fördern. Wir besprechen mögliche Inhalte und bei welchen Themen die Schüler*innen noch besonders Unterstützung brauchen. Als wir das geklärt haben, fragt sie mich, ob ich noch Zeit hätte, dass sie mir von etwas anderem erzählen könne, das sie beschäftigt. Ja. Sie fängt an zu erzählen, dass sie nicht so recht wisse, woran sie mit dem neuen Schulleiter sei. Mal sei er offen und zugänglich, mal habe er einen sehr scharfen Ton drauf. Sie wisse nicht so recht, wo sie sich da positionieren solle. Ich höre ihr einfach zu. Immer mal wieder unterbreche ich sie und wiederhole das, was ich von ihr gehört habe. Sie stutzt ein wenig und erzählt dann weiter. Ich gebe keine Ratschläge und keine Tipps. Ich gebe keine eigenen Gedanken dazu. Ich bleibe ganz bei ihrem Thema und wiederhole in Abständen, was ich von ihr höre. Es entstehen Ruhepausen, in denen sie nachdenkt und dann fortfährt. Der Redefluss nimmt mit der Zeit ab und sie wird ruhiger. Ja, meint sie nach einer Weile, ich glaube, ich habe es: Ich warte einfach mal ab, wie sich die Situation so insgesamt entwickelt. Als wir den Raum verlassen, sagt sie: Es tut so gut, einfach nur mal erzählen zu können.

Hörst du manchmal einfach nur zu, wenn dir jemand etwas erzählt? Ohne Ratschläge und Tipps zu geben?

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Treiben lassen

Die Sonne scheint an diesem kalten Wintertag und lädt zum Spazierengehen ein. Erst laufe ich meinen üblichen Weg durch den Wald. Leider liegt er im Schatten. Ich möchte so gerne in der Sonne laufen. Zu selten hat sie sich in der letzten Zeit gezeigt. Also entscheide ich mich abzubiegen. Einen Moment lang laufe ich in der Sonne, bis auch dieser Weg schattig wird. Wieder biege ich ab und nehme den nächstmöglichen Weg, um in der Sonne zu gehen. Und so mache ich es nochmal und nochmal. Ich lasse los und lasse mich treiben. Ich mache mir keine Gedanken, wohin die Wege führen und ob ich den Weg zurück finde. Ich folge einfach nur der Sonne.
Nach einer ganzen Weile sehe ich Häuser am Waldrand. Ich frage eine Spaziergängerin, in welcher Richtung der Sportplatz liegt. Sie meint, ich solle am besten der Hauptstraße folgen. Nein, denke ich, ich will lieber einen Weg abseits der Hauptstraße finden. Ich laufe durch ein mir unbekanntes Wohngebiet, biege mal links ab, mal rechts. Auch hier lasse ich mich treiben. Ich laufe durch fremde Straßen, eine Sackgasse entlang, an deren Ende doch noch eine Treppe weiterführt. Als ich wieder Spaziergänger treffe, frage ich nochmals nach dem Weg Richtung Sportplatz. Ich finde den Eingang zu einem kleinen Park, den ich als Teil des Friedhofs erkenne und gehe weiter in Richtung meiner Wohnung.
Endlich wieder zu Hause angekommen, merke ich, wie erfüllt ich bin.
Die Menschen, die ich nach dem Weg gefragt habe, waren so freundlich und hilfsbereit. Und mich treiben zu lassen ist etwas, was ich sonst an neuen Urlaubsorten zu machen liebe. Ich streife gerne durch mir fremde Städte, biege mal rechts, mal links ab und lasse mich überraschen, welche Kirche oder welches Café mich an der nächsten Ecke erwartet. Genau dieses Urlaubsgefühl bringe ich von diesem Spaziergang mit nach Hause.

Wann hast du dich mal oder zum letzten Mal treiben lassen?  Wie hat es sich für dich angefühlt?

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Die Tramperin

Ich fahre auf den Markt nach St. Ingbert. Auf der Höhe des Freibades steht eine Frau und hält den Daumen raus. Ich halte an und nehme sie mit. Auf den wenigen Kilometern, die wir zusammen fahren, erzählt sie mir in Stichpunkten ihre Geschichte: Alkoholabhängige Eltern, Pflegefamilie, Missbrauch, Heimunterbringung, Leben auf der Straße, trampen, weil sie kein Geld hat. Ich höre zu. Ihr Bericht lässt mich verstummen. Was Menschen erleben und durchmachen müssen! In St. Ingbert angekommen, bedankt sie sich für das Mitnehmen. Ohne viel nachzudenken, ziehe ich einen Geldschein aus meinem Geldbeutel und überreiche ihn ihr. Sie stutzt, zögert: Nein, das wolle sie nicht. Bitte, sage ich. Sie nimmt ihn. Ob sie das Geld in Alkohol oder Zigaretten umsetzt? Ich weiß es nicht. Was ich weiß ist, dass ich in dem Moment so viel mehr Geld habe als sie und ihr gerne etwas davon abgebe.

Wann teilst du gerne? Was teilst du gerne?

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Wortwahl

In der „Beschwerde“ steckt die Schwere und geht mit dem Wunsch einher, dass andere einem die Schwere abnehmen mögen. Wer sich „empört“, geht auf die Empore, um besser gesehen zu werden. Dies macht auf ein zentrales Bedürfnis aufmerksam: gesehen und gehört werden. Im „Lästern“ taucht das Wort Last auf. Lästernde Menschen sind offenbar be- und geladen und suchen Entlastung.

Aus: Joachim Schaffer-Suchomel, „Du bist, was du sagst“

Link zur PDF-Datei mit dem Artikel „Wortwahl“:
http://www.brainfresh.net/wp/wp-content/uploads/2017/10/Artikel-WEGE-Wortwahl.pdf

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Berührung

Ich bin bei einer Freundin, wir kochen und essen zusammen. Später sitzen wir an ihrem PC und schauen uns etwas an. Sie geht auf die Toilette. Als sie zurückkommt, bleibt sie hinter mir stehen und legt mir die Hände auf die Schultern. Ich spüre die Wärme ihrer Hände und die Wohltat dieser Berührung. Wie lange bin ich in dieser besonderen Zeit schon nicht mehr berührt worden? Wie kostbar und wie wichtig Berührung ist! Was für ein Genuss! Dankbarkeit erfüllt mich für diese Geste.

Wann hast du zum letzten Mal eine andere Person berührt? Wann hat dich ein anderer Mensch zuletzt berührt?

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