Christine Wanjura

Der Chor

Ich habe drei Jahre in einem Chor mitgesungen. Wir haben uns jeden Donnerstag getroffen und anderthalb Stunden gesungen. Zu Geburtstagen haben die Geburtagskinder etwas mitgebracht und wir haben anschließend zusammengesessen. Im Sommer hat die Chorleiterin ein kleines Picknick organisiert und zu Weihnachten eine kleine Weihnachtsfeier. Dann kam Corona. Erst fiel der Chor ganz aus, dann trafen wir uns auf Zoom zum Singen. In der wärmeren Jahreszeit trafen wir uns im Freien. Als es wieder möglich wurde, uns in geschlossenen Räumen zu treffen, wechselte die Chorleiterin in einen anderen Raum, weil der bisherige, durch den Abstand der jetzt eingehalten werden wusste, zu klein für uns geworden war. Mit dem Raumwechsel ging ein Wechsel des Tages einher, an dem wir uns trafen. Der neue Raum war nur dienstags frei. Dienstags konnte ich nicht. Für mich bedeutete es das Ende meiner Zeit mit dem Chor. Bei dem letzten gemeinsamen Treffen kündigte die Chorleiterin trotz meiner Anfrage weder an, dass einige, u. a. ich, nicht mehr dabei sein würden, noch äußerte sie ein Bedauern, dass die Veränderungen es uns nicht mehr möglich machten mitzusingen. Das ging ihr wohl irgendwie unter. Die letzte Probe endete mit einem schlichten Tschüss.

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Abschied

2003 heiratete mein Bruder zum zweiten Mal. Es zog zu seiner Frau nach Stuttgart und der Kontakt zwischen uns schlief ein. 2005 verstarb meine nächstjüngere Schwester. Wir begegneten uns bei ihrer Beerdigung und der anschließenden Wohnungsauflösung. Dann schlief der Kontakt wieder ein. 2015 besuchte ich ein Seminar in Stuttgart. Ich kontaktierte ihn und wir trafen uns. Das Treffen war recht unterkühlt und der Kontakt schlief abermals ein. Ich wusste kaum etwas aus seinem jetzigen Leben mit seiner neuen Frau. 2021 rief er mich im Sommer ganz unvermittelt an mit der Frage, ob ich bereit wäre, Stammzellen zu spenden. Er war zum wiederholten Male an Leukämie erkrankt. Als Familienangehörige kam ich als Spenderin in Frage. Fast 20 Jahre Pause und dann das. Ich wusste nicht, dass er 2019 das erste Mal an Leukämie erkrankt war. Ich zögerte erst, verdaute die Nachricht. Dann willigte ich ein, mich testen zu lassen. Die Untersuchung ergab, dass ich als Spenderin nicht kompatibel war. Die Krankheit bedeutete den Beginn einer neuen Beziehung zwischen meinem Bruder und mir. Ich besuchte ihn einmal und wir telefonierten gelegentlich. Anderthalb Jahre nach unserer Kontaktaufnahme verstarb er. Es kamen vielleicht ein Dutzend Menschen zu seiner Beerdigung. Alles Menschen, die ich nicht kannte. Auch wenn ich keinen Anteil an seinem Leben gehabt hatte, so tat es mir doch gut, in kurzen Gesprächen beim anschließenden Trauerkaffee herauszuhören, wie sehr er von den anwesenden Menschen geschätzt und gemocht wurde und vermisst werden würde.

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Beerdigung

Ich fahre mit dem Zug nach Stuttgart zur Beerdigung meines Bruders. Als ich ankomme, regnet es in Strömen. Ich entscheide mich dafür, ein Taxi zu nehmen. Der Fahrer fragt mich, ob ich geschäftlich in der Stadt sei. “Nein”, antworte ich, “ich komme zur Beerdigung meines Bruders.” Er drückt mir sein Beileid aus und im gleichen Atemzug erzählt er von der Beerdigung eines seiner Verwandten. Beim Trauerkaffee nach der Beerdigung erzählt mir eine Verwandte meiner Schwägerin von der Beerdigung ihrer kürzlich verstorbenen Mutter. Als ich mich an den Tisch neben meiner Schwager stelle, erzählt er mir, dass ein Freund von ihm kürzlich verstorben sei. Ich entscheide mich, mich etwas abseits zu setzen. Ich bin gerade vollends mit dem Abschied von meinem Bruder beschäftigt.

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Apfel-Mohn-Kuchen

2019 wurde bei meinem Bruder Leukämie diagnostiziert. Mit einer Chemotherapie konnte er den Krebs überwinden. Zwei Jahre später war die Leukämie wieder da. Jetzt wurde eine Stammzellentransplantation vorgeschlagen. Ich kam als nächste Verwandte als Spenderin in Frage. Nach einer Untersuchung stellte sich heraus, dass ich nicht kompatibel war. Es fand sich ein Fremdspender. Alles verlief glatt, sein Körper stieß die fremden Zellen nicht ab. Nach Monaten im Krankenhaus, langwierigen Untersuchungen und diversen Behandlungen konnte er endlich wieder nach Hause. Lange, lange kämpfte er mit den sehr belastenden Nebenwirkungen der Behandlung. Und darum, wieder zu Kräften zu kommen. Er war froh, die Leukämie ein zweites Mal überwunden zu haben, auch wenn er wusste, dass es nie wieder so sein würde wie vor seiner Erkrankung. Wir telefonierten von Zeit zu Zeit. Er berichtete, dass es ihm so ganz allmählich wieder besser ginge und die Begleiterscheinungen auch langsam nachließen. Ich kündigte meinen baldigen Besuch an. Da er in Stuttgart wohnt, sahen wir uns nicht oft. Er freue sich, sagte er, und er würde einen Kuchen backen. Wir diskutierten hin und her, ob es ein Apfel- oder ein Apfel-Mohn-Kuchen werden solle und einigten uns auf einen Apfel-Mohn-Kuchen. Ich wollte den Februar abwarten. Ab dem 2. Februar würde die Maskenpflicht in den Zügen wegfallen. Dann folgten einige Seminartage. Am Abend des vorletzten Seminartages erhielt ich eine Nachricht meiner Schwägerin. Mein Bruder liege im Krankenhaus auf der Intensivstation. Ich rief sie tags darauf an und sie schilderte mir die Situation. Es sah nicht gut aus. Erst ganz allmählich sickerte bei mir die Erkenntnis ein, dass es keinen Apfel-Mohn-Kuchen mit meinem Bruder zusammen mehr geben würde. Fünf Tage später starb er.

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In der Sauna

Nach dem Seminar gehe ich in die hauseigene Sauna des Seminarhauses. Was für ein Genuss, nach einem Tag voll intensivem Reden und konzentriertem Zuhören loszulassen und zu entspannen. Ich bin ganz alleine. Ich genieße die Ruhe und das Schwitzen. Bei meinem zweiten Saunagang gesellt sich noch ein anderer Referent dazu. Er ist in Plauderlaune: Was ich denn für ein Seminar geben würde. Als er ‘Gewaltfreie Kommunikation’ hört: Wie wichtig dieses Thema sei, gerade jetzt. Er habe das Thema Steuern. Das sei ja recht trocken, aber er versuche es so lebendig wie möglich zu gestalten. Und er erzählt weiter … Ich überlege, was ich tun kann: Die Sauna verlassen? Das wäre der einfachste Weg. Ich will aber nicht gehen, weil sein Reden mich anstrengt. Ich will gehen, wenn ich genug geschwitzt habe. Er plaudert weiter. Ich nehme innerlich Anlauf und warte auf eine Redepause, die aber nicht kommt. Und dann hole ich tief Luft und unterbreche ihn mit den Worten: “Ich habe heute viel geredet und viel zugehört. Meine Zuhörkapazität ist erschöpft.” Er entschuldigt sich sofort, er sei ja nur neugierig gewesen, was ich so mache. Er wolle mich nicht zutexten. Und er schweigt.

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Telefongespräch

Ich rufe sie an, um zu hören, wie es ihr geht. Sie war zu einer Untersuchung im Krankenhaus. Ja, es gehe ihr gut. Die Untersuchung habe vielleicht 1 Stunde gedauert und sie sei noch am selben Tag entlassen worden. Und nein, es sei nicht so schlimm gewesen, wie sie befürchtet hatte. Ja, sie müsse wohl operiert werden, aber das sei ja ein Routineeingriff und sie warte noch auf den Termin. Und wie es mir denn ginge? Oh, ich habe gerade geschwollene Mandeln und Schluckbeschwerden. Und übermorgen gebe ich ein Seminar. Mal schauen, wie ich das hinkriege! Nein, unterbricht sie mich, ihr ginge es wirklich gut.

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Flugbegleiterin

Wir gehen zu viert spazieren. Ich plaudere mal mit der einen Person, mal mit der anderen. Mit einer von ihnen komme ich ins Gespräch, als sie erwähnt, dass sie Flugbegleiterin war. Ich freue mich auf einen Austausch von Erfahrungen über ferne Länder mit ihr und erzähle, dass ich in Delhi gelebt habe. Daraufhin beginnt sie den Akzent zu imitieren, den Inder haben, wenn sie Englisch sprechen. Ich reagiere nicht darauf. Was sollte ich dazu auch sagen? Ich habe das in meinen Jahren in Delhi tagtäglich gehört. Dann erzählt sie von einem jungen Mann, den sie im Vorbeifahren aus dem Crewbus heraus gesehen habe, der sich am Straßenrand gerade entleert hatte und über das ganze Gesicht strahlte. Sie wisse nicht mehr genau, ob es in Delhi war … oder Mumbai … Ja, auch ich habe das jeden Morgen auf dem Weg zur Arbeit erlebt. Das sind mir keine fremden Erlebnisse. Mehr erzählt sie nicht und hakt auch bei mir nicht weiter nach. Das Gespräch über Indien ist damit leider beendet.

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Rote Bete

Ich habe meine Rote Bete aus Samen gezogen. Ich habe sie im Frühjahr auf der Fensterbank in einen Blumenkasten gesetzt und sehnsüchtig darauf gewartet, dass die ersten Blätter keimen. Als sie ca. 3 cm groß waren, habe ich sie in den Garten gepflanzt. Dort habe ich sie mit viel Liebe, Pflege und Wasser durch den heißen Sommer gebracht. Im Oktober habe ich die ersten Knollen geerntet und sie als Salat gegessen. Im Dezember war ich erst an Corona erkrankt und dann folgte ein zäher Atemwegsinfekt, der mich sehr beutelte. Und dann kam der Frost. Durch die Erkrankung war mir der Garten völlig aus dem Sinn geraten. Sonst verfolge ich auch das Wettergeschehen oder habe einen Blick auf das Wetter, was ich diesmal durch das Kranksein völlig vergaß. Erst als der Frost nachließ, war ich wieder im Garten. Die Rote Bete waren erfroren. Es tat mir so leid! Es hat mich erschüttert. Ich hatte sie aus dem Samen gezogen, sie durch den heißen Sommer gebracht — und dann nicht darauf geachtet, sie vor dem Frost zu schützen.

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Max Ophüls Filmfestival

In Saarbrücken findet jedes Jahr das ‘Max Ophüls Filmfestival’ statt. Vor vielen Jahren ließ ich mich von der Energie des Festivals mitreißen. Menschen in meinem Umkreis fieberten dem Festival entgegen, nahmen sich eine Woche Urlaub, um sich alle Filme ansehen zu können. Der Chef einer kleinen Firma lud jedes Jahr seine Mitarbeiter zu einem Film ein. Ich ließ mich von dem Festivalfieber anstecken. Ich musste das Programm aber eingehend studieren, bis ich einen Film fand, der mich ansprach. Für das Ticket musste ich in einer sehr langen Vorverkaufsschlange anstehen. Am Abend der Vorführung drängelte sich eine Menschenmenge im Foyer des Kinos. Es war heiß und stickig. Ich sah mir den Film an und er langweilte mich. So viel Aufwand für so wenig Freude? War es das wert? Was nur begeistert die Menschen an diesem Filmfestival, fragte ich mich. Es dauerte eine Zeit, bis ich endlich meine Einstellung wandeln konnte: Was andere Menschen begeistert, muss nicht auch zwangsläufig mich begeistern. Damit konnte ich das Festival für mich loslassen.

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Feuer machen

Jutta und ich hatten die Aufgabe übernommen, abends ein Lagerfeuer zu machen. Durch den Regen tagsüber war alles nass und es war windig. Wir hatten zwar trockenes Holz, aber kein Kleinholz, um das Feuer in Gang zu bringen. Wir schichteten zerknülltes Zeitungspapier und dicke Holzscheite übereinander. Das Papier brannte zu schnell ab, um das Holz entzünden zu können. Wir versuchten, mit einem Taschenmesser kleine Stücke Holzspäne von einem dicken Klotz abzuschneiden. Wieder schichteten wir Zeitungspapier, Holzspäne und Holzscheite übereinander. Das Feuer hielt erst einmal. Ich platzierte die dicken Scheite so, dass sie möglichst auch Feuer fingen, ohne die noch spärlichen Flammen zu erdrücken und Jutta schaute zu. Irgendwann meinte sie: „Lass das Feuer doch mal in Ruhe, sonst geht es wieder aus!“ ‚Hmm’, schoss es mir in den Sinn, ‘ich mache jedes Jahr einige Lagerfeuer in meinem Garten und habe in meinem Leben bestimmt schon mehr in Gang gebracht als sie.‘ Und dann machte es wie einen Klick in meinem Kopf und ich konnte innerlich loslassen. ‚Lass sie mal‘, dachte ich dann. ‚Du bist mehr als doppelt so alt und hast diese Erfahrungen. Gib ihr die Gelegenheit, welche zu sammeln.‘

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