Christine Wanjura

Abschlussfeier

Die Schüler*innen mit Hauptschulabschluss und die mit dem Mittleren Bildungsabschluss werden heute verabschiedet. Die meisten freuen sich, die Schule endlich hinter sich zu lassen. Dass sie in einigen Wochen eine weitere Schule besuchen oder eine Ausbildung anfangen werden, liegt erstmal in weiter Ferne. Ich beneide sie um dieses Gefühl der Freiheit und darum, dass sie das Leben noch vor sich haben. So vieles steht ihnen offen, beruflich wie privat. Sie können etwas ausprobieren und sich umentscheiden und neu orientieren. Die meisten Kapitel meines eigenen Lebens sind schon geschrieben. Meine berufliche Tätigkeit neigt sich dem Ende zu. Welche Möglichkeiten stehen mir noch offen?

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Atemlos

Ich fahre in die Schule. Etliche meiner Schülerinnen sind heute auf einem Wandertag. Zwei sind krankgemeldet. Übrig bleiben nur zwei Schülerinnen, die aus ihrer Klasse zu meinem Unterricht kämen. Ich überlege schnell: Heute findet eine Fortbildung statt, die ich ins Auge gefasst und dann doch verworfen hatte. Vielleicht könnte ich da teilnehmen? Ich versuche dort anzurufen, um herauszufinden, ob es noch freie Plätze gibt. Das Büro öffnet erst um 9 Uhr und die Fortbildung beginnt ebenfalls um 9 Uhr. Was tun? Ich werde die Schulleiterin fragen, ob sie mich spontan für die Fortbildung freistellt. Sie ist noch nicht da, also frage ich die Stellvertreterin. Sie darf das nicht entscheiden. Die Schulleiterin kommt, ich darf zur Fortbildung, ich informiere meine Schüler*innen. Ob überhaupt noch ein Platz frei ist, frage ich mich auf der längeren Fahrt zum Veranstaltungsort. Und was mache ich, wenn nicht? Ja, es sind noch Plätze frei. Ich atme auf, das Ganze hat sich gelohnt. Die Fortbildung stellt sich als langweilig heraus. Nach dem Ende der Veranstaltung um 16 Uhr fahre ich bei einer Freundin vorbei, die in der Nähe wohnt. Ich begleite sie bei den Einkäufen, die sie geplant hatte. Abends gehen wir noch etwas essen. Um 20 Uhr 30 bin ich zu Hause, denn ich habe eine Telefonverabredung. Schließlich falle ich müde und erschöpft ins Bett und kann doch nicht einschlafen. So voll war der Tag und ich habe mir keine Zeit genommen, alles Revue passieren zu lassen. Das passiert dann im Bett und raubt mir den Schlaf. Dabei weiß ich doch, dass ich Raum brauche, um Ereignisse sacken zu lassen und zu verarbeiten.

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1115 Kopien

In einem kurzen Mail informiert mich meine stellvertretende Schulleitung, dass ich am 5.6. den Raum wechseln müsse, da in meinem Klassenraum Elektroarbeiten durchgeführt würden. Gut, denke ich, das ist Mittwoch und Mittwoch ist mein kurzer Tag, da habe ich nur zwei Gruppen und die sind beide recht klein. Als ich am nächsten Tag, am Dienstag, den 4.6. in die Schule komme, ist mein Klassenraum eine Baustelle. „Sie müssen heute den Raum wechseln, ich bin hier den ganzen Tag am Arbeiten,“ sagt mir der Elektriker. Wie jetzt, denke ich, das sollte doch am Mittwoch passieren, am 5.6.? So ein Mist, denke ich und das an meinem langen Tag mit drei großen Gruppen! Es hilft nichts, ich nehme die Materialien, die ich brauche und gehe in den Vorbereitungsraum der Küche, der mir als Ersatz angeboten wurde. Dort muss ich erstmal die Tische so stellen, wie es für meine Gruppen passt und noch einen Tisch extra organisieren, weil nicht genügend da sind. Dann gehe ich durch die Klassen und informiere meine Schülerinnen über den Raumwechsel. Ich habe keine Zeit zu kopieren und verschiebe es auf die Pause. Zum Beginn der Stunde sind nicht alle da und ich muss noch die suchen, die fehlen. Wegen des Raumwechsels sind die Gruppen unruhiger als sonst. In der Pause spricht mich die Schulsozialarbeiterin auf einen ukrainischen Schüler an, der heute nicht in die Schule gekommen ist. Ich hatte seiner Mutter bei ihrem Besuch in der Schule in der vorherigen Woche zugesagt, ihn in dem Fall zu Hause abzuholen. Also werde ich ihn in der Mittagspause abholen fahren. In der Pause vorher finde ich keine Zeit zu kopieren. In der Mittagspause dann kommt eine Kollegin und meint, sie brauche wie jeden Dienstagnachmittag den Raum. Ich muss wieder umziehen. Ich entscheide mich zuerst zu essen, dann den Schüler abzuholen und dann nach einem freien Raum zu fragen. Ich ziehe abermals um, informiere wieder die Schülerinnen und erst als es schon zum Ende der Pause klingelt, komme ich zum Kopieren. Ich stehe am Kopierer und drücke auf „1“ für eine Testkopie. Nichts passiert. Ich drücke wieder auf „1“. Wieder passiert nichts. Ich stehe total unter Druck. Ich gebe schließlich auf 15 ein, die Anzahl Kopien, die ich für die Gruppe brauche. Jetzt setzt sich der Kopierer in Gang und zeigt 1115 Kopiereraufträge im Display. Ich kriege den Vorgang nach 18 Kopien gerade noch gestoppt, aber nicht storniert. Weil ich schon spät dran bin, gehe ich in die Klasse und hoffe, dass sich der Kopierer nach einer kurzen Zeit selbst ausloggt und die Aufträge storniert, so wie es mir schon einige Male passiert ist, als ich das gar nicht wollte. Am Ende des Unterrichts fahre ich noch eine kranke Schülerin nach Hause. Am nächsten Tag liegt im Lehrerzimmer ein dicker Stapel Kopien auf meinem Tisch und hat die Schulleiterin mir eine Kopiersperre erteilt.

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Gedankenmühle

Ich laufe über den Markt und überlege, was ich zuerst einkaufe, weil es unten in meinen Rucksack gedrückt werden kann und was ich später einkaufe, weil es nicht gequetscht werden sollte. Als ich am Gemüsestand vorbeikomme, sehe ich Rote-Bete-Pflänzchen. Genau die suche ich gerade! Es sind nur noch wenige da. Ich überlege, ob es nicht doch sinnvoll ist, gleich anzustehen und die Pflänzchen zu kaufen. ‚Nein‘, denke ich, ‚das mache ich am Ende, damit sie nicht zerdrückt werden.‘ Als ich mich nach meiner Einkaufsrunde schließlich am Gemüsestand anstelle und nach den Rote-Beete-Pflänzchen frage, sagt die Verkäuferin: „Die habe ich gerade alle verkauft.“ Ich ärgere mich total. Warum habe ich mich nicht gleich angestellt? Und sofort setzt sich meine Denkmaschine in Gang: Wo könnte ich jetzt noch Pflänzchen kaufen? Fahre ich noch auf einen anderen Markt? Fahre ich in ein Garten-Center? Die Gedanken wollen das Thema nicht loslassen. Sie suchen zwanghaft nach einem Ersatz.

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Wütend

Ich beginne den Nachmittagsunterricht mit Schwung und Energie und versuche die Schüler*innen mitzuziehen. Ich schreite schnell voran und wechsle von einem Thema zum nächsten. Erkan unterbricht mich und fragt mich: „Warum sind Sie so wütend, Frau Wanjura?“ Ich stutze. Bin ich wirklich wütend? Ich versuche doch nur, die mittagsträgen Schüler*innen mitzuziehen. Und während ich das überlege, werde ich ruhiger. Ich hatte tatsächlich nicht bemerkt, dass ich wütend bin. Ich bin Erkan dankbar, dass er mir das gespiegelt hat.

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Süß

Ich hatte vor langen Jahren in einem Sommer am Bodensee eine kleine Ferienwohnung gemietet. Bei meinen Spaziergängen entdeckte ich, dass es eine Fülle von Brombeeren gab. In der Küche war alles Notwendige vorhanden, um Brombeergelee zu machen. Ich verbrachte also einige Stunden dieses Sommerurlaubs damit, die gesammelten Brombeeren zu Gelee zu verarbeiten. Davon hatte ich immer noch ein Glas in meiner Marmeladensammlung. Immer wenn ich es in die Hand nahm, erinnerte ich mich an diese herrliche Sommerzeit. Es war für mich wie ein im Glas konservierter Sommerurlaub. Mal um Mal schob ich es raus, das Glas zu öffnen. Irgendwann war es soweit. Ich bestrich zum Frühstück eine Scheibe Brot mit dem tief-violetten Gelee. Ich biss in die Scheibe und freute mich auf den Geschmack von süßer Frucht. Aber was für ein Reinfall! Es war total überzuckert. Ich hatte zu der Zeit die Gelees viel süßer gemacht als ich sie heute mache. So lange hatte ich mich auf dieses Glas Gelee gefreut und jetzt schmeckte es nicht einmal mehr.

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Das Besteck

Zu Studienzeiten gab es in den verschiedenen WGs, in die ich zog natürlich immer schon Besteck. Ich weiß nicht mehr, wann ich mir eigenes Besteck angeschafft habe. Ich erinnere mich allerdings daran, dass ich bei meinem Umzug nach Neuseeland weder mein Geschirr noch Besteck mitgenommen habe. Als ich nach der Trennung von meinem Mann nach Christchurch in eine eigene Wohnung umzog, kaufte ich mir das Wichtigste gebraucht zusammen. Nach Deutschland brachte ich von alldem nur einige Messer und Gabeln mit zurück. Teller, Becher und alles andere verschenkte ich dort. Als ich nach anderthalb Jahren in möblierten Wohnungen am Bodensee meine Wohnung in Saarbrücken bezog, kaufte ich mir wieder das Nötigste zusammen. Das Besteck blieb ein Sammelsurium von nicht zueinander passenden Messern, Löffeln und Gabeln und es störte mich nie. Bis jetzt. Ich war vor einem halben Jahr umgezogen und zum erstem Mal in meinem Leben wünschte ich mir ein einheitliches Besteck. Das Geld für ein neues Set wollte ich nicht investieren und suchte in Kleinanzeigen. Als ich ein passendes gefunden hatte, bat ich eine Freundin es abzuholen, da die Leute, die es verkauften in ihrer Nähe wohnten. Mein erstes Besteckset. Wie freute ich mich! Als ich es dann in Gebrauch nahm, fiel mir auf, wie schwer es war und ich empfand es zunehmend als störend und unangenehm. Nach einiger Zeit gab ich es an ein Gebrauchtwarenhaus ab. Ich entdeckte ein anderes Set in den Kleinanzeigen. Ich schrieb die Person an und erhielt keine Antwort. Nicht am selben Tag und auch nicht am nächsten Tag und auch nicht in der nächsten Woche. Ich schrieb die Person nochmals an. Ich bekam als Antwort, das Besteck sei noch da, ich könne vorbeikommen und es abholen. Auf meine Frage hin, wann und wo ich es abholen könne, erhielt ich keine Antwort mehr. Tags drauf war die Anzeige gelöscht. Sollte ich mich mit meinem Bestecksammelsurium vielleicht doch abfinden? Dann blätterte ich ganz beiläufig das dem Wochenspiegel beiliegende Prospekt von Aldi durch und entdeckte im Angebot der folgenden Woche: Besteck. Mein Wunsch flammte wieder auf. Als ich am Tag des Angebots zu Aldi kam, war das Besteck ausverkauft.

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Bunte Welt

Ich begegne ihm ab und an auf dem Weg in den Garten. Er trägt Röcke und Kleider. Als ich ihn zum ersten Mal sah, stutzte ich. Die Person passte so gar nicht in die Schublade Mann oder Frau. Aber warum nicht, dachte ich. Wenn Frauen Hosen tragen, dann dürfen Männer doch auch Röcke und Kleider tragen. Gleiches Recht für alle.
An der Brottheke bedient ein junger Mann, geschminkt mit Lippenstift, Rouge und Eyeliner. Auch hier bleibt mein Blick beim ersten Mal hängen. Auch er passt so gar nicht in eine Kategorie. Und dann genieße ich seinen Anblick: Jemand, der in kein Muster passt, der zu sich steht. Ich bewundere seinen Mut und genieße sein außergewöhnliches Auftreten. Die Welt ist vielfältiger und bunter als die Kategorien, die uns so vertraut sind. Und ich schätze es sehr, dass Menschen sich trauen so zu sein, wie sie sind.

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Neid II

Sie ist seit zwei Jahren in Rente. Jetzt hat sie Zeit und ausreichend finanzielle Mittel. Letztes Jahr war sie dreimal in Urlaub. Sie hat einfach eine Idee, schaut im Internet nach Flügen, bucht und verreist. Sie ist an keine Schulferien mehr gebunden und kann ganz frei über ihre Zeit verfügen. Darum beneide ich sie so sehr. So gerne wäre ich großzügiger und würde mich mit ihr freuen. Und ich bin es leider nicht.
Ich erzähle jemandem, dass ich eine Woche Pauschalurlaub in der Türkei mache. Sie sagt, dass sie mich beneide. Ich bin erstaunt. Wird es immer etwas geben, das wir beneiden?
Wie schwer fällt es mir immer wieder, ganz bei mir zu bleiben und wertzuschätzen, was ich habe.

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Wofür würde ich Geld bezahlen?

Ich spüle Geschirr und höre nebenher Radio. Ich kriege nur mit einem halben Ohr mit, worum es in der Sendung geht. Plötzlich horche ich auf, als die Sprecherin fragt: „Würden Sie für die Arbeit, die Sie machen Geld bezahlen, um sie ausführen zu dürfen?“ Wofür schlägt mein Herz so stark, dass ich dafür Geld bezahlen würde, beginne ich mich zu fragen. Für den Garten, ja, da würde ich Geld bezahlen, um dort buddeln, anpflanzen und ernten zu dürfen. Und um meine Seminare geben zu dürfen und meine Geschichten schreiben zu dürfen. Und auch dafür, dem einen oder anderen Schüler Deutsch als Zweitsprache näherbringen zu dürfen. Soviel von dem was ich mache, erfüllt mich? Mit dieser Bilanz bin ich sehr zufrieden.

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