Christine Wanjura

Bus fahren

Ich kann wegen des Drehschwindels nicht Auto fahren. Also fahre ich mit dem Bus zum Garten. Ich bin sonst immer mit dem Auto gefahren, gezielt von A nach B. Ich stieg ins Auto, fuhr zum Ziel, parkte, und ging den restlichen Weg zu Fuß, ohne mit weiteren Menschen in Kontakt zu kommen. Nun warte ich an der Bushaltestelle. Manchmal kommt der Bus pünktlich, manchmal verspätet und auch mal gar nicht. Beim Einsteigen tauche ich in eine ganz andere Welt ein: Ich teile die Fahrt mit Müttern, die sich lebhaft unterhalten, während sich ihre kleinen Kinder über Sitze hinweg kletternd verfolgen. Ich teile die Fahrt mit männlichen Jugendlichen, die sich so laut von ihren unterschiedlichen Musikvorlieben überzeugen wollen, dass alle im Bus es unweigerlich mitbekommen. Ich teile die Fahrt mit Menschen, bei denen mir der Atem stockt, als sie an mir vorbeigehen. Sie sind in eine Mischung aus abgestandenem Zigarettenrauch und Schweiß gehüllt. Ich teile die Fahrt mit einer Frau, die lauthals eine andere Mitfahrerin auf übelste Weise beschimpft. Ich teile die Fahrt mit Menschen, die völlig in ihrem Smartphone versunken sind. Und ich teile die Fahrt mit Menschen aus vielen unterschiedlichen Ländern. Nur zweimal ergibt es sich, dass ich ein paar Worte mit einer Sitznachbarin, die gerade von einem Krankenbesuch im Krankenhaus kommt, wechsele. Und ein anderes Mal plaudere ich kurz mit einem Ukrainer. Bald werde ich wieder ganz alleine in meinem Auto fahren.

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Nichts tun

Ich sitze draußen in der Sonne und tue nichts. Scheinbar nichts. Ich gehe nicht spazieren, ich bin nicht mit dem Rad unterwegs und führe auch keinen Hund aus. Ich sitze einfach nur da. Ich lese nicht und höre auch keine Musik und doch bin ich sehr aktiv. Ich sitze da und genieße die Sonne auf meiner Haut. Ich tanke ihre Wärme buchstäblich auf. Ich beobachte, wie sich die Schatten mit dem Lauf der Sonne verändern. Ich lausche den Vögeln und dem Rauschen des Windes in den Bäumen. Und ich beobachte den Fluss meiner Gedanken. Ich beobachte, wie ich über ein Thema nachdenke und dann springen die Gedanken zu einem anderen Thema. Ich entscheide sie ruhen zu lassen und wieder den Vögeln zu lauschen. Später stelle ich bewusst Überlegungen an zu einem Thema, das mich derzeit beschäftigt. Ich bemerke, wie ein neuer Gedanke auftaucht. Auch den beobachte ich, wie er sich entwickelt und wie er andere verdrängt. Ich tue nichts von außen Sichtbares und bin doch sehr beschäftigt.

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Telefongespräch II

Ich erzähle ihr, die mich mein Leben lang kennt, dass ich in der letzten Woche im Krankenhaus war. Mir sei im Unterricht heiß und kalt geworden, ich habe mich nicht mehr konzentrieren können und beim Aufstehen sei mir schwindlig geworden. “Das ist der Kreislauf”, unterbricht sie mich. Unbeirrt erzähle ich weiter. Ich sei dann mit dem Notarztwagen ins Krankenhaus gebracht worden. Nach vier Krebsfällen in der Familie sei meine Angst gewesen, dass es jetzt mich träfe! “Ach, so ein Quatsch. So was darfst du gar nicht denken.” Als ich erzähle, dass ich eine Entzündung des Gleichgewichtsorgans im linken Ohr habe, kommt von ihr: “Das hatte meine Mutter auch mal. Da ist sie ins Reformhaus gegangen. Dort haben sie ihr ein Mittel empfohlen und dann war es weg. Da musst du nur in ein Reformhaus gehen. Die wissen, was da hilft, die haben richtig Ahnung.” Als ich später erwähne, dass mein Auto noch an der Schule stehe, sagt sie: “Da fragst du einfach zwei Kollegen, ob die dir das Auto nicht bringen können.” Nach dem Telefonat überlege ich enttäuscht: Vielleicht rede ich mit ihr das nächste Mal doch besser nur über das Wetter.

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Gehen lernen

Wann habe ich zuletzt oder überhaupt einmal über das Gehen nachgedacht? Seit ich als Kleinkind das Laufen gelernt habe, ist es eine Selbstverständlichkeit, über die ich keinen Gedanken verliere. Und dann, von einem Moment zum anderen, kann ich nicht mehr alleine stehen. Mein Körper funktioniert nicht mehr so, wie ich es kenne. Alles um mich herum dreht sich. Nichts steht gerade und bleibt an seiner Stelle. Ich fühle mich wie in einer Wäschetrommel im Schleudergang. Ich kann nicht mehr ohne gestützt zu werden auf die Toilette gehen. Ich ertrage die Welt um mich herum nur noch mit geschlossen Augen. Sobald ich die Augen öffne, dreht sich wieder alles wie auf einem Karussell.
Am nächsten Tag schaffe ich es zumindest schon, mich an den Wänden entlanghangelnd zur Toilette voranzutasten. Ich kann immer noch nicht frei stehen. Ich übe das Gehen am Wandgeländer im Krankenhausflur. Das Geländer führt nicht um die Ecke herum. Es gibt eine Lücke von vielleicht einem Meter. Diesen Meter schaffe ich nicht im freien Gang. Der Meter ist unüberwindbar. Das bedeutet das Ende meiner Bewegungsfreiheit. Drei Meter vor und zurück an dieser einen Wand. Ich kann auch nicht von der einen Wandseite des Flures auf die andere Wandseite gehen, so einfach durch den freien Raum. Ich stehe da und schaue mir diese zwei Meter von Wand zu Wand an und kann sie nicht überwinden.
Am dritten Tag schaffe ich es mit Hilfe der Physiotherapeutin, frei durch den Flur zu gehen. Ich kann durch den freien Raum gehen. Ich schwanke dabei wie eine Volltrunkene auf hoher See. Unsicher betrachte ich Menschen, die mir begegnen und Wagen die im Gang stehen. Wie komme ich nur um sie herum? Am nächsten Tag soll ich entlassen werden. Wie soll ich SO meinen Alltag alleine bewältigen?

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Im Krankenhaus

Ich war Jahrzehnte nicht im Krankenhaus und brauchte es Gott sei Dank auch nicht. Und dann drei Nächte stationär. In der Notaufnahme ist eine sehr empathische Krankenschwester, die mir mein Gesicht feucht abwischt, um mir Erleichterung zu bringen und die drei Einstiche braucht, um mir genug Blut entnehmen zu können. Beim letzten Einstich verfehlt sie die Vene und die Infusion läuft ins Gewebe. Ich bekomme einen ganz dicken Arm, den ich nicht mehr beugen kann. Beim Ziehen der Nadel später verbindet sie den Einstich so, dass noch Blut und Flüssigkeit auslaufen in die Kleidung und auf die Unterlage. Als ich eine andere Krankenschwester später um etwas bitte, antwortet diese: “Wir haben hier ständig Neuzugänge und kein Personal. Da müssen Sie schon warten, bis wir Zeit haben.”
Auf der Station höre ich irgendwann eine Lautsprecherdurchsage: “Frau Wanjura bitte zum Empfang.” Als ich an der Rezeption meiner Station ankomme, bittet mich die Frau um mein Versicherungskärtchen. Das liegt zu Hause. Dann solle ich nach der Entlassung bitte nochmal kommen und es vorbeibringen. Kein Problem, mache ich. Als ich kurz vor meiner Entlassung bei derselben Person nochmal nachfrage,  ob ich die Versicherungskarte auch am Empfang unten im Erdgeschoss vorzeigen könne oder nur hier auf der Station, schaut sie mich erstaunt an. “Alles in Ordnung. Alles erledigt. Ich brauche nichts mehr. Ich weiß nicht, wer Ihnen das gesagt hat. Ich war das nicht.”
Auf dem Frühstückstablett steht meine Tasse Tee. Er ist tiefschwarz, bitter und nicht mal mehr lauwarm. Beim Abräumen frage ich die Krankenschwester, ob ich irgendwo einen heißen Tee bekommen könne. Sie könne mir einen bringen, sagt sie. Und tut es. Irgendwann höre ich bei meinem Gang über die Flure den Satz: „Die mit ihrem heißen Tee!“ Ich weiß nicht, ob sich das auf mich bezieht.
Behandelt hat mich eine junge, sehr empathische Ärztin. Sie fragte nach und erklärte ganz geduldig alles, was ich wissen wollte. Auch das gehört zu den Eindrücken, die ich aus dem Krankenhaus mitgenommen habe.

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Gehirntumor?

Ich breche an einem Dienstagvormittag mitten im Unterricht zusammen. Mir wird kalt und heiß gleichzeitig, ich kann mich nicht mehr konzentrieren und beim Aufstehen bemerke ich einen Schwindel. Ich schicke meine Schülerinnen zurück in ihre Klasse und einen Schüler bitte ich, ins Sekretariat zu gehen und Hilfe zu holen. Hilfe kommt. Die erste Vermutung ist eine Kreislaufschwäche. Hinlegen, Beine hoch. Hilft nicht. Übelkeit setzt ein. Ich erbreche mich. Alles um mich herum dreht sich. Ich kann nichts mehr anschauen. Die helfenden Kolleginnen überlegen, mich nach Hause zu bringen. Dann vielleicht doch eher direkt zu meiner Hausärztin. Der Schwindel lässt nicht nach und die Übelkeit auch nicht. Ich erbreche mich wiederholt. Nichts geht mehr. Keine Überlegung, kein Mitdenken oder Entscheiden. Nach anderthalb Stunden, die mir vorkommen wie fünf Minuten, schaut die Schulleitung nach mir. Man entscheidet den Notarzt zu rufen. Ein Sanitäter überprüft mich sofort auf Schlaganfall. Eher unwahrscheinlich. Zwei Männer führen mich zum Wagen und müssen mich jeweils einer von rechts und einer von links stützen. Ich kann nur mit geschlossen Augen gehen. Ich kann mich nicht selbst halten. Ich kann nicht alleine stehen. In der Notaufnahme im nächstgelegenen Krankenhaus folgen Blutabnahme, Blutdruckkontrolle, CT und langes, langes Warten und wieder Erbrechen. Eine Ärztin kommt und stellt Fragen. Nach den ersten Befunden stellt sie Vermutungen an. Nach vier Krebsfällen in der Familie – bin ich jetzt dran? Ich werde stationär aufgenommen. Zu jedem Toilettengang muss ich begleitet werden. Ich kann die Augen nur geschlossen halten. Alles um mich herum dreht sich. Der Brechreiz hört auf und meine Ängste steigen. Am nächsten Tag folgen weitere Tests. Was werden die Untersuchungen ergeben? Einen Gehirntumor? Im Warteraum vor der nächsten Untersuchung laufen mir die Tränen. Ich konzentriere mich auf meine Atmung: tiefes und regelmäßiges Ein- und Ausatmen. Den Gedankenfluss stoppen. Atmen. Den Horrorvisionen keinen Raum geben. Atmen. Das Bild an der Wand betrachten. Atmen. Auf die sonnenbeschienenen Bäume draußen schauen. Atmen. Die Kühle, die durch das gekippte Fenster kommt, spüren. Atmen. Erst am späten Vormittag kommt die Entwarnung: Keine Befunde. Nichts Bedrohliches. Es wird eine Entzündung des Gleichgewichtsorgans im linken Ohr vermutet. Das ist sehr, sehr unangenehm, jedoch behandelbar und geht auch wieder völlig weg.

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Ragna

Ragna kommt aus Litauen und hat fünf Jahre für meinen Vermieter gearbeitet. Sie kümmerte sich ums Haus, um alles, was er nicht mehr konnte als Über-90-Jähriger. Anfänglich grüßten wir uns nur. Irgendwann plauderten wir miteinander, wenn ich bei schönem Wetter draußen saß und sie die Blumen goss oder den Rasen mähte. Ich half ihr bei Behördendeutsch, brachte sie mal zur KFZ-Werkstatt, als ihr Auto in Reparatur war, mal brachte sie mich irgendwohin. Sie liebte meine Katze und begleitete mich liebevoll beim Abschied von Kitty, als diese mit 16 Jahren starb. Als ich dann Chica zu mir nahm, ermunterte sie mich, geduldig mit ihr zu sein, bis sie sich an mich gewöhnen würde. Ich freute mich jedesmal, Ragna zu sehen und mit ihr zu plaudern. Ich schätzte ihre positive Lebenseinstellung und den Einblick in ihr so andersartiges Leben. Dann starb mein Vermieter mit 99 Jahren. Ragna verlor damit ihre Arbeit. Ich sah ihr Auto noch ein letztes Mal vor dem Haus stehen. Sie kam nicht zu mir, um sich von mir zu verabschieden – ich verstand die Welt nicht mehr. Ich vermisse unsere Gespräche sehr.

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Im Café

Die Bedienung bringt mir meinen Cappuccino. Ich sehe, wie sie sich etwas zubereitet und sich hinsetzt. Endlich hat sie eine Pause, vermute ich. Alle Gäste sind bedient und sie kann sich ihrem Essen widmen. Meinen Cappuccino habe ich inzwischen geleert. Ich habe Lust auf einen zweiten. Ich schaue zur Bedienung hinüber. Sie ist noch am Kauen. Ich überlege: Mein Cappuccino hat Zeit. Ich warte, bis sie fertig gegessen hat und bitte sie erst dann, mir noch einen Cappuccino zu bringen. Sie nickt mir freundlich dankend zu.

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Sitzplatz

Ich bin in Frankfurt am Bahnhof und warte auf den Zug nach Saarbrücken. Der Zug fährt leer auf dem Gleis ein. Alle finden bequem einen Sitzplatz und stellen ihre Taschen auf den Sitz neben sich. In Mannheim, dem nächsten Halt, steigen auch viele Menschen zu. Sie suchen ebenfalls einen Sitzplatz und finden viele Plätze vor, auf denen Taschen oder Rucksäcke stehen. Sie gehen entweder weiter oder sprechen die Person an, ob sie bitte den Sitz frei machen würde? Warum blockieren wir den Sitz neben uns mit unseren Taschen, frage ich mich.

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Gespräch im Zug

Ich sitze im Zug nach Mannheim. Erst sitze ich alleine. Irgendwann setzt sich eine junge Frau zu mir und packt Karteikarten aus. Ich bin ganz neugierig, was sie da wohl lernt. Eine Fremdsprache? Ich spreche sie an und frage sie, was sie lernt. Physik, antwortet sie. Ob sie Physik studiere, hake ich nach. Ja, antwortet sie kurz und schaut wieder auf ihre Karteikarten. Es ist offensichtlich, dass sie die Zeit im Zug zum Lernen nutzen will. Ich hake noch einmal nach und frage, wie hoch der Frauenanteil in dem Studiengang sei. “Sicherlich nicht sehr hoch, oder?” So bei 30% liege er, antwortet sie wieder recht knapp und schaut dabei auf ihre Karten. “Ich will dich nicht länger vom Lernen abhalten”, beende ich das Gespräch. Wie schade, zu gerne hätte ich noch mehr erfahren.

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