Christine Wanjura

Immer die anderen?

Wir sitzen nach der Messe oft noch in einer lockeren Runde zusammen und plaudern. Da ist Jan mit seiner Freundin Gabi, Ella, die gerade 80 geworden ist, Norbert und noch andere. Ich treffe Norbert an einem Nachmittag zufällig in der Stadt. Er begrüßt mich mit: Hallo, Christiane! Christine, entgegne ich ihm. Oh, meint er, da haben die anderen mir was Falsches gesagt. Haben sie das wirklich, oder hat er den Namen vielleicht nur falsch verstanden? Oder vergessen? Ich weiß es ja nicht. Aber ich weiß, wie schnell wir alle die Schuld auf andere schieben.

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Das stört

Ich habe einen Praktikanten, der mich im Unterricht unterstützt. Während er mit Leyla Mathe übt, übe ich mit Khalil lesen. Khalil ist in der 5. Klasse. Er ist Analphabet, kann noch kein Deutsch sprechen, aber versteht schon einiges. Er ist sichtlich gelangweilt und hat keine Lust. Es ist so mühsam, für ihn das Wort ‚Messer‘ zu formulieren. Er lenkt ab und wiederholt lautstark: „Mess-sssss, Mess-sssss, Mess-ssss.“ Der Praktikant und Leyla schauen genervt rüber. Als Khalil weitermacht, greift der Praktikant ein: „Das stört.“ Khalil schaut zu ihm rüber, versteht aber vermutlich nicht, was das heißt, ‚das stört‘ und was genau von ihm verlangt wird. Wieder fängt Khalil an, Laute zu machen. Auch mich strengen die Geräusche an. Ich zeige auf den Praktikanten und Leyla und sage: „Die sind leise.“ Dann zeige ich auf uns und sage: „Wir sind leise.“ Jetzt wird Khalil ruhig und arbeitet eine Weile konzentriert.

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Wie klein die Welt doch ist

Ich hatte am Samstag eine Einführung. Eine Teilnehmerin erzählt mir, dass ihre Nichte GFK-Trainerin geworden sei und sie durch sie die GFK kennengelernt habe. In der Pause frage ich sie, wer ihre Nichte denn sei. Pepita, in Göttingen. „Das gibt es doch nicht“, sage ich, „ich kenne Pepita, nicht persönlich, aber durch die Erzählungen von Heiko, einem Freund.“ Und die Teilnehmerin kennt Heiko. Nicht persönlich, aber durch die Erzählungen von Pepita. Wir müssen beide lachen.
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Fremdenfeindlichkeit

Ich unterrichte eine Gruppe von acht syrischen Mädchen aus vier verschiedenen Klassen. Wenn sie zusammenkommen, geht das Geschnatter los, in Arabisch, alle durcheinander. Sie bemerken mich kaum, nur wenn ich eingreife, horchen sie auf und sind kurzfristig ruhig. Dann legen sie wieder los. Mit lauter Stimme sage ich: „Ruhe“, und „Deutsch bitte“. Wieder herrscht einen Moment Ruhe und dann geht es wieder los. „Ihr könnt in der Pause Arabisch reden. Ich könnt zu Hause Arabisch reden. Ihr könnt am Wochenende Arabisch reden“, sage ich, und „im Unterricht bitte Deutsch.“ Wieder hält es nur wenige Minuten. Ich kann sie verstehen, weil es ihre Muttersprache ist, die sie natürlich brauchen, um sich so auszudrücken, wie sie es wirklich wollen. An manchen Tagen habe ich ein dickeres Fell und lasse sie reden. Und dann gibt es auch Tage, da reißt mir der Geduldsfaden und ich denke: Sie leben hier in Deutschland. Sie brauchen doch die Sprache, um sich hier zurechtzufinden, um hier Fuß fassen zu können. Ich glaube bei ihnen so wenig Interesse für diese neue Sprache, für das Land, das sie aufgenommen hat, wahrzunehmen und spüre den Keim der Ablehnung ihnen gegenüber. Ich entscheide mich ganz bewusst, diesen Weg nicht weiterzugehen.

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Die Massage

Ich habe in einem Thai-Massage-Salon eine 30minütige Massage für Nacken und Kopf gebucht. Als ich ankomme, werde ich in einen Raum gebeten und die Masseurin geht wieder. Ich warte. Sie kommt wieder und sagt: „Ausziehen.“ Ich zögere, ich will ja nur am Kopf und am Nacken massiert werden, dafür muss ich mich doch nicht ausziehen. „Bitte, ausziehen“, wiederholt sie. Ich ziehe meinen Pulli aus, nicht das Unterhemd. Wenn ich die Träger vom Unterhemd über die Schultern ziehe, ist der Nacken definitiv frei. Sie zieht mir das Unterhemd ganz runter. Ich soll mich hinlegen. Ich sage, ich will eine Massage am Kopf und Nacken. „Ja, ja, bitte hinlegen.“ Ich füge mich. Die Masseurin steigt mir auf mein Hinterteil und fängt an meinen Rücken zu massieren. Ich wiederhole: „Ich möchte eine Massage am Kopf und Nacken.“ – „Ja“, sagt sie und rückt ein Stück höher und massiert jetzt meine Schultern. Es ist angenehm, die Schultern massiert zu bekommen, ja, aber es ist nicht das, wofür ich gekommen bin. Noch einmal wiederhole ich, „bitte Kopf und Nacken“. Jetzt widmet sie sich kurz meinem Nacken und meinem Hinterkopf. Frustriert ziehe ich mich schließlich wieder an. Wie kann ich darauf bestehen, zu bekommen, was ich gebucht habe? Und wann füge ich mich in die Gegebenheiten? Und ich frage mich, ob sie mich überhaupt richtig verstanden hat.

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Zuversicht

Was gibt dir Zuversicht, fragt mich der Seminarleiter und fordert uns zu einem Austausch zu zweit auf. Wo finde ich Zuversicht, frage ich mich, während wir beide überlegen? Und mir fällt mein Garten ein. Der Garten ist mein Vorbild für den Zyklus im Jahresablauf. Die Jahreszeiten wechseln sich ab, es ist nicht immer nur Winter oder Sommer. Es folgt eine Zeit der Ruhe im Winter. Dann folgt die Zeit des Erblühens und der Aussaat. Daran schließt sich die Zeit der Fülle an Farben, an Früchten und Düften an. Nach der Fülle kommt die Zeit der Ernte und schließlich kommt wieder alles zur Ruhe. Dieser Rhythmus gibt mir eine tiefe Zuversicht im Hinblick auf den Ablauf von Höhen und Tiefen, von Dunkel und Hell, von Freude und Trauer. Von diesen Bildern erfüllt beginne ich das Gespräch.

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Was stinkt hier?

Ich fahre nach einem Einkauf bei ‚dm‘ nach Hause. Irgendetwas im Auto stinkt nach Chemie. Ich überlege: Ich habe Katzenfutter gekauft. Das kann es nicht sein. Ich habe Dosen mit Tomaten gekauft. Auch das kann nicht stinken. Ich habe Waschpulver gekauft. Ein biologisch abbaubares Produkt. Nein, auch das kann nicht so penetrant nach Chemie riechen. Und dann dämmert es mir. Ich war vor dem Einkauf beim Frisör und habe mir ausnahmsweise auch noch die Haare waschen lassen. Es sind meine Haare, die vom Shampoo einen so penetranten chemischen Geruch haben. Ich finde es unerträglich und bin genervt, sie mir zu Hause nochmal waschen zu müssen.

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Gendergerechtigkeit

Ich bin immer wieder dankbar, in diesem Land geboren und hier aufgewachsen zu sein. Für meine Eltern war Bildung für alle ihre Kinder wichtig, Junge wie Mädchen. Wir haben alle Abitur gemacht und studiert. Mein Bruder musste vielleicht weniger im Haushalt helfen als wir Mädchen, er hat später aber selbst kochen gelernt und den Haushalt mit seiner Frau geteilt. Ich darf ohne die Erlaubnis eines Ehemannes oder Vaters meinen Beruf frei wählen. Ich darf Auto fahren. Ich darf wählen. Ich kann mich kleiden wie ich will und im Sommer kurzärmelige T-Shirts, Röcke oder Shorts tragen. Vielleicht oder sogar sicher verdiene ich weniger als ein Mann in meiner Stellung. Und dann höre ich Zahlen über die Verteilung von Männern in Führungspositionen: 90% der Städte und Gemeinden haben Bürgermeister, 80% der Unternehmen haben keine Frau im Führungspersonal, die Parlamente in Deutschland und Europa werden von Männern dominiert, 95% der Zeitungsredaktionen, 75% der Unis, 88% der Bundeswehr und 84% der Bundespolizei werden von Männern geleitet. Ich erschrecke über die Zahlen.

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Leyla

Leyla ist seit gut einem Jahr in Deutschland. Sie kann weder lesen noch schreiben, weder in ihrer Muttersprache Arabisch noch in Deutsch. Sie ist in der sechsten Klasse und ich bringe ihr erstmal Lesen und Schreiben bei. Sie lernt ohne jede Begeisterung. In Klasse 7 liest sie immer noch sehr holprig und stolpert auch noch über Wörter, die sie schon kennt. Auf einer Seite, die ich mit ihr lese, steht viermal das Wort ‚gerne‘. Beim ersten Lesen braucht sie eine Ewigkeit, daraus das Wort ‚gerne‘ zu formulieren. Als sie zum zweiten Mal auf das Wort stößt, denke ich, dass sie es doch wiedererkennen müsste. Doch nein, sie rätselt über die fünf Buchstaben, als hätte sie das Wort noch nie gesehen. Ich werde unruhig. Ich zeige ihr, dass sie das Wort zwei Zeilen vorher schon einmal gelesen hat. Dann taucht das Wort zum dritten Mal auf der Seite auf. Jetzt müsste es aber doch klappen, denke ich. Und wieder rätselt sie am dem Wort herum, als hätte sie es vorher nie gesehen. Ich bin ratlos. Wieder zeige ich ihr, dass sie das Wort jetzt schon zwei Mal vorgelesen hat. Wieder reagiert sie gelangweilt. Ich werde laut. Was ist heute los mit dir? Wo ist dein Kopf? Sie schaut mich mit Unverständnis an. Was soll ich nur tun, frage ich mich. Sie soll doch lesen lernen, denke ich und wenigstens ein paar Sätze auf Deutsch sprechen können. Wie will sie sich denn nur verständigen und ihren Weg hier finden?

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Lärm

Am Montag sitze ich am Schreibtisch und will den Unterricht für den nächsten Tag vorbereiten, als etwas vor meinem Fenster kracht und scheppert. Ich beachte es nicht weiter und konzentriere mich auf meine Vorbereitungen. Wieder scheppert es. Wieder reißt das Geräusch mich raus. Wieder lenke ich meine Konzentration auf meine Arbeit. Es kracht erneut. Und noch einmal. Und noch einmal. Was passiert da draußen nur, frage ich mich. Es gelingt mir nicht, das Krachen zu ignorieren. Jetzt bin ich endgültig raus. Durch das Wohnzimmerfenster sehe ich, dass Möbel aus einem Stockwerk über mir vor das Haus geworfen werden. Männer in Arbeitskleidung tragen die Teile in einen Kleintransporter mit der Aufschrift ‚Entrümpelung‘. Etliche Stunden setzt sich das so fort und ich finde erst am späten Abend in die Ruhe, den Unterricht weiter vorzubereiten.

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