Christine Wanjura

Ragna

Ragna kommt aus Litauen und hat fünf Jahre für meinen Vermieter gearbeitet. Sie kümmerte sich ums Haus, um alles, was er nicht mehr konnte als Über-90-Jähriger. Anfänglich grüßten wir uns nur. Irgendwann plauderten wir miteinander, wenn ich bei schönem Wetter draußen saß und sie die Blumen goss oder den Rasen mähte. Ich half ihr bei Behördendeutsch, brachte sie mal zur KFZ-Werkstatt, als ihr Auto in Reparatur war, mal brachte sie mich irgendwohin. Sie liebte meine Katze und begleitete mich liebevoll beim Abschied von Kitty, als diese mit 16 Jahren starb. Als ich dann Chica zu mir nahm, ermunterte sie mich, geduldig mit ihr zu sein, bis sie sich an mich gewöhnen würde. Ich freute mich jedesmal, Ragna zu sehen und mit ihr zu plaudern. Ich schätzte ihre positive Lebenseinstellung und den Einblick in ihr so andersartiges Leben. Dann starb mein Vermieter mit 99 Jahren. Ragna verlor damit ihre Arbeit. Ich sah ihr Auto noch ein letztes Mal vor dem Haus stehen. Sie kam nicht zu mir, um sich von mir zu verabschieden – ich verstand die Welt nicht mehr. Ich vermisse unsere Gespräche sehr.

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Im Café

Die Bedienung bringt mir meinen Cappuccino. Ich sehe, wie sie sich etwas zubereitet und sich hinsetzt. Endlich hat sie eine Pause, vermute ich. Alle Gäste sind bedient und sie kann sich ihrem Essen widmen. Meinen Cappuccino habe ich inzwischen geleert. Ich habe Lust auf einen zweiten. Ich schaue zur Bedienung hinüber. Sie ist noch am Kauen. Ich überlege: Mein Cappuccino hat Zeit. Ich warte, bis sie fertig gegessen hat und bitte sie erst dann, mir noch einen Cappuccino zu bringen. Sie nickt mir freundlich dankend zu.

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Sitzplatz

Ich bin in Frankfurt am Bahnhof und warte auf den Zug nach Saarbrücken. Der Zug fährt leer auf dem Gleis ein. Alle finden bequem einen Sitzplatz und stellen ihre Taschen auf den Sitz neben sich. In Mannheim, dem nächsten Halt, steigen auch viele Menschen zu. Sie suchen ebenfalls einen Sitzplatz und finden viele Plätze vor, auf denen Taschen oder Rucksäcke stehen. Sie gehen entweder weiter oder sprechen die Person an, ob sie bitte den Sitz frei machen würde? Warum blockieren wir den Sitz neben uns mit unseren Taschen, frage ich mich.

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Gespräch im Zug

Ich sitze im Zug nach Mannheim. Erst sitze ich alleine. Irgendwann setzt sich eine junge Frau zu mir und packt Karteikarten aus. Ich bin ganz neugierig, was sie da wohl lernt. Eine Fremdsprache? Ich spreche sie an und frage sie, was sie lernt. Physik, antwortet sie. Ob sie Physik studiere, hake ich nach. Ja, antwortet sie kurz und schaut wieder auf ihre Karteikarten. Es ist offensichtlich, dass sie die Zeit im Zug zum Lernen nutzen will. Ich hake noch einmal nach und frage, wie hoch der Frauenanteil in dem Studiengang sei. „Sicherlich nicht sehr hoch, oder?“ So bei 30% liege er, antwortet sie wieder recht knapp und schaut dabei auf ihre Karten. „Ich will dich nicht länger vom Lernen abhalten“, beende ich das Gespräch. Wie schade, zu gerne hätte ich noch mehr erfahren.

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Pizza

Ich gebe ein Seminar. Zum Mittagessen bestellt mein Auftraggeber Pizza für alle. Mittags sitzen wir zusammen und essen unsere Pizza. Die Pizzen sind so groß, dass keine*r der Anwesenden es schafft, sie ganz aufzuessen. Ich packe drei Viertel und freue mich darauf, abends das letzte Viertel zu essen. Noch zwei andere legen ihren Pizzakarton zur Seite, um ihn später mitzunehmen. Die anderen werfen ihre abgebissenen und teilweise auch nicht angebissenen Reste in den Müll. Es tut mir so weh zu sehen, wie die kostbaren Lebensmittel zu Müll werden, ganz besonders bei den Resten der Thunfischpizza. Da hat ein so wundervolles Meerestier sein Leben lassen müssen und wenigstens zur Nahrung gedient. Aber nun wird ein Teil von ihm einfach nur zu Müll?

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Chica ist weg

Ich bin über Ostern drei Nächte weg. Ich entscheide mich dafür, meine Katze Chica mit ausreichend Futter draußen zu lassen. Ich habe sie schon früher mal mit genügend Futter alleine gelassen. Der Unterschied jetzt ist, dass das Haus nach dem Tod des Vermieters völlig verwaist ist und auch seine 24-Stunden-Hilfe nicht mehr da ist. Als ich zurückkomme, ist Chica nicht da. Zuerst mache ich mir keine Sorgen. Sie hat sich schon öfter mal Zeit gelassen, bis sie nach Hause kommt. Sie kommt aber auch im Laufe des Tages nicht und auf mein Rufen hin passiert nichts. Dann wird sie in der Nacht kommen, beruhige ich mich. Aber auch in der Nacht kommt sie nicht. In meinem Kopf laufen sämtliche Horrorvisionen ab: ‚Sie ist für ein Versuchslabor eingefangen worden.‘ – ‚Ein Hund oder ein Fuchs hat sie erwischt.‘ – ‚Sie hat sich ein anderes Zuhause gesucht.‘ Ich laufe am nächsten Tag die Nachbarschaft ab und rufe nach ihr. Keine Reaktion. Ich gebe sie innerlich schon auf und vermisse sie schrecklich. Wir haben so eine schöne Routine miteinander entwickelt. Es hat so lange gedauert, bis Chica sich auf mich eingelassen und Vertrauen zu mir aufgebaut hat. Es hat so viel Zeit und Geduld gebraucht. Ich habe keine Hoffnung, sie wiederzusehen. ‚Hätte ich sie nur nicht alleine draußen gelassen‘, werfe ich mir vor. Ich bin am Boden zerstört. Sie hat mir so viel Sicherheit gegeben, ihr weiches Fell hat mich gewärmt, ihr Gleichmut hat mich beruhigt, ihr zufriedenes Schnurren in den Schlaf gewiegt. Sie hat sich auf die Art der Tiere, ohne Worte, einen ganz großen Platz in meinem Herzen geschaffen. Jetzt erst merke ich, was sie mir bedeutet …
Erst am Abend des nächsten Tages sehe ich sie auf die Küchenfensterbank springen. Miauend will sie Einlass und stürzt sich dann auf den Futternapf. Kein vorwurfsvoller, kein fragender Blick: „Wo warst du so lange?“ Als sie satt ist, will sie gestreichelt werden. Wir nehmen unseren Alltag miteinander wieder auf, so als wäre nie etwas gewesen.

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Brokkoli

In dem Supermarkt, in dem ich am häufigsten einkaufe, gibt es eine Kiste im Tiefkühlregal, in die die Lebensmittel mit einem in Kürze ablaufenden  Mindesthaltbarkeitsdatum gelegt werden. Ich gucke da gerne rein und lasse mich inspirieren. Ich habe dadurch schon Sachen probiert, die ich sonst nicht gekauft hätte und auch manchmal welche, die nicht nach meinem Geschmack waren. Irgendwann lag eine leicht eingerissene Packung gefrorener Brokkoli in der Kiste. Die hat mich angelacht und ich habe sie mitgenommen. Zu Hause lag sie weitere Tage in meiner Gefriertruhe. Erst als ich sie zum Kochen rausholte, entdeckte ich auf der Packung den Aufdruck: Aus dem Hochlandanbau in Ecuador. Ich konnte kaum glauben, was ich da las. Da wurde in Südamerika ein Gemüse angebaut, das auch in Europa wirklich gut wächst, und per Schiff oder per Luft x km nach Deutschland transportiert. Wenn in Ecuador Gemüse für Europa angebaut wurde, was aßen dann die Menschen dort?

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Regenwürmer

Es  hat in der Nacht geregnet, und auch morgens auf dem Weg zur Schule regnet es noch. Auf dem Weg über den Schulhof zum Eingang sehe ich auf den Waschbetonplatten Regenwürmer. Sie müssen schon einen langen Weg zurückgelegt haben auf dem Weg von einem Grünstreifen auf der einen Seite des Schulhof bis zu einem anderen auf der anderen Seite des Hofes. Kurz denke ich nach: Bald ist Pause. Da stürmen an die 300 Kinder auf den Schulhof. Sie werden die Regenwürmer gar nicht wahrnehmen. Die haben also keine Überlebenschancen. Den Gedanken ertrage ich nicht. Ich stelle meine Tasche ab und sammle die Würmer ein, die auf meinem Weg liegen und trage sie ins Gras. Ich entdecke noch weitere und rette auch sie. Nein, ich kann nicht alle Regenwürmer retten, das ist mir schon klar. Aber die, die ich aufgehoben habe, dürfen erstmal weiterleben.

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Der Chor

Ich habe drei Jahre in einem Chor mitgesungen. Wir haben uns jeden Donnerstag getroffen und anderthalb Stunden gesungen. Zu Geburtstagen haben die Geburtagskinder etwas mitgebracht und wir haben anschließend zusammengesessen. Im Sommer hat die Chorleiterin ein kleines Picknick organisiert und zu Weihnachten eine kleine Weihnachtsfeier. Dann kam Corona. Erst fiel der Chor ganz aus, dann trafen wir uns auf Zoom zum Singen. In der wärmeren Jahreszeit trafen wir uns im Freien. Als es wieder möglich wurde, uns in geschlossenen Räumen zu treffen, wechselte die Chorleiterin in einen anderen Raum, weil der bisherige, durch den Abstand der jetzt eingehalten werden wusste, zu klein für uns geworden war. Mit dem Raumwechsel ging ein Wechsel des Tages einher, an dem wir uns trafen. Der neue Raum war nur dienstags frei. Dienstags konnte ich nicht. Für mich bedeutete es das Ende meiner Zeit mit dem Chor. Bei dem letzten gemeinsamen Treffen kündigte die Chorleiterin trotz meiner Anfrage weder an, dass einige, u. a. ich, nicht mehr dabei sein würden, noch äußerte sie ein Bedauern, dass die Veränderungen es uns nicht mehr möglich machten mitzusingen. Das ging ihr wohl irgendwie unter. Die letzte Probe endete mit einem schlichten Tschüss.

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Abschied

2003 heiratete mein Bruder zum zweiten Mal. Es zog zu seiner Frau nach Stuttgart und der Kontakt zwischen uns schlief ein. 2005 verstarb meine nächstjüngere Schwester. Wir begegneten uns bei ihrer Beerdigung und der anschließenden Wohnungsauflösung. Dann schlief der Kontakt wieder ein. 2015 besuchte ich ein Seminar in Stuttgart. Ich kontaktierte ihn und wir trafen uns. Das Treffen war recht unterkühlt und der Kontakt schlief abermals ein. Ich wusste kaum etwas aus seinem jetzigen Leben mit seiner neuen Frau. 2021 rief er mich im Sommer ganz unvermittelt an mit der Frage, ob ich bereit wäre, Stammzellen zu spenden. Er war zum wiederholten Male an Leukämie erkrankt. Als Familienangehörige kam ich als Spenderin in Frage. Fast 20 Jahre Pause und dann das. Ich wusste nicht, dass er 2019 das erste Mal an Leukämie erkrankt war. Ich zögerte erst, verdaute die Nachricht. Dann willigte ich ein, mich testen zu lassen. Die Untersuchung ergab, dass ich als Spenderin nicht kompatibel war. Die Krankheit bedeutete den Beginn einer neuen Beziehung zwischen meinem Bruder und mir. Ich besuchte ihn einmal und wir telefonierten gelegentlich. Anderthalb Jahre nach unserer Kontaktaufnahme verstarb er. Es kamen vielleicht ein Dutzend Menschen zu seiner Beerdigung. Alles Menschen, die ich nicht kannte. Auch wenn ich keinen Anteil an seinem Leben gehabt hatte, so tat es mir doch gut, in kurzen Gesprächen beim anschließenden Trauerkaffee herauszuhören, wie sehr er von den anwesenden Menschen geschätzt und gemocht wurde und vermisst werden würde.

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